Urs Fischer ist seit dem Jahr 2017 CEO der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV). Er verfügt über 20 Jahre Berufserfahrung in der Normungsbranche und ist national und international in zahlreichen Normungsgremien vertreten. Er war einige Jahre Mitglied im Technischen Lenkungsgremium der ISO und ist seit Januar 2022 im Verwaltungsrat bei CEN. (Bilder: SNV)

Urs Fischer: «Musiknoten sind wie Normen: Sie sind eine Konvention und funktionieren wie diese.»

Interview mit Urs Fischer, SNV

«Alle profitieren täglich von der Normungsarbeit»

Urs Fischer ist CEO der Schweizerischen Normen-Vereinigung (SNV). Mit seinen Geschichten und seinem Erfahrungsschatz verdeutlicht er, dass Normungsarbeit lebendig und manchmal unkomplizierter ist als man denkt. Fischer gibt im Interview mit eindrücklichen sowie überraschenden Zahlen einen tieferen Einblick in die Normungswelt.

Urs Fischer, Wie erklären Sie Aussenstehenden die komplexe Normungswelt einfach

Ich nutze Musiknoten als Beispiel: Sie sind eine Konvention und funktionieren wie eine Norm. Musiknoten sind die Sprache für alle Musizierenden und garantieren, dass ein Stück jedes Mal identisch tönt. Zudem sind sie interoperabel: Sie funktionieren überall auf der Welt, egal mit welchem Musikinstrument sie gespielt werden.

Wo kommt man im Alltag mit Normen in Kontakt?

Alle profitieren täglich von der Normungsarbeit, in den meisten Fällen unbewusst. Das beginnt schon am Morgen, wenn man die Kaffeemaschine einstellt oder sich die Zähne putzt, duscht und sich danach eincremt. Beispielsweise sagt der RDA-Wert (Relative Dentin Abrasion) einer Zahnpasta aus, wie stark der Abrieb des Zahnbelages ist. So fällt bei empfindlichen Zähnen die Wahl einer Zahnpasta einfacher. Das ISO-Komitee «Kosmetik» kümmert sich um die Hautverträglichkeitstests aller Cremen und gibt Menschen die Gewissheit, dass sie die entsprechenden Produkte ohne Bedenken nutzen können. Wenn Sie danach mit dem Velo zur Arbeit fahren, wurde der Helm nach den strengen Normen von CEN kontrolliert. Normen schützen Konsumenten täglich.

Was sind neue Themen, mit denen sich die Normungsarbeit 2023 beschäftigt hat?

Die aktuellen Themen sind sehr breit gefächert. Im Bereich Energie haben wir in der Schweiz gerade eine Guideline für Flüssigmethan-Anlagen fertiggestellt. Das Thema Eignungsdiagnostik ist auf dem Radar erschienen, ebenso wie die rundum professionelle Betreuung von Lernenden, die in einem Leitfaden festgehalten wurde. International sind Themen rund um Nachhaltigkeit weiter im Vormarsch. Ein Beispiel aus der fortschreitenden Digitalisierung ist die Norm ISO 12911:2023, wo es um ein Framework für BIM (Building Information Modelling) geht. Das Modell beschreibt, wie heutzutage von Architekten über Planende bis hin zu Infrastrukturbetreibern alle Informationen ohne Medienbruch digital zur Verfügung stehen müssen. Ein Thema, bei dem wir in der Schweiz stark hinterherhinken.

Nachhaltigkeit ist ein Thema, das ebenfalls bei den «Sustainable Development Goals (SDGs)» der UNO eine grosse Bedeutung hat. Wie spielt das mit den ISO-Normen zusammen?

Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen einen ehrgeizigen 15-Jahres-Plan aufgestellt, um die dringendsten Probleme der Welt anzugehen. Daraus entstanden sind 17 Fokusthemen, die sogenannten «Sustainable Development Goals (SDGs)». Die ISO trägt zu all diesen SDGs ihren Teil bei, indem sie mit den weltweit besten Fachleuten relevante ISO-Normen entwickelt und publiziert. Absoluter Spitzenreiter dabei ist das «SDG 9: Industry, Innovation and Infrastructure». Insgesamt 14 515 ISO-Normen zahlen auf die Erreichung dieses Ziels ein. Danach folgen 3594 ISO-Normen zum «SDG 3: Good Health and Wellbeing» und auf Platz drei 3198 ISO-Normen zum «SDG 12: Responsible Consumption and Production».

Ohne aktuelle internationale Normen werden die Industrie und Gesellschaft nicht in der Lage sein, die notwendigen Ziele zu erreichen. ISO hat sich verpflichtet, mit ihren Mitgliedern, Interessenvertretern und Partnern zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass ISO-Veröffentlichungen die erfolgreiche Umsetzung des Pariser UN-Abkommens unterstützen. ISO ist zudem an den internationalen Klimakonferenzen vertreten, das letzte Mal kürzlich bei der COP28 in Dubai.

Die konkrete Normungsarbeit findet in den Komitees und den dazugehörigen Arbeitsgruppen statt. Sind 2023 neue Komitees gegründet worden?

Wenn wir in der Schweiz Komitees bilden, sind das in den meisten Fällen Spiegelkomitees. Man kann sich das wie Niederlassungen von Unternehmen im Ausland vorstellen. Die letzten, die wir so gegründet haben, waren die Komitees «Hyperloop» und «Cannabis». Das Thema Cannabis wird meiner Meinung 2024 wieder an Fahrt aufnehmen. Hanf ist eine sensationelle Pflanze mit vielen Einsatzgebieten. Es gibt den Industriehanf, den Lebensmittelhanf, den Medizinalhanf und den Freizeithanf. Der Letztere ist derjenige mit der Rauschwirkung, der ungerechtfertigt zum schlechten Ruf des Hanfs beiträgt. Aktuell fehlen uns Qualitätsstandards für den Anbau von Hanf. Die erlaubten Toleranzgrenzen für Pestizidrückstände müssten dringend festgelegt werden, so dass beispielsweise Lebensmittel für die Konsumenten unbedenklich sind.

Werden Komitees manchmal auch aufgelöst?

Eine Auflösung ist sehr selten. Ab und an wird ein Komitee auf schlafend – «dormant» – gesetzt. So haben die dazugehörigen Normen dennoch einen Hafen, falls Anpassungen notwendig sind oder jemand eine Ansprechperson sucht. Häufiger ist der Fall, dass man zwei Komitees und deren Normenportfolios zusammenfügt, um Überschneidungen bei Themen zu vermeiden.

Normen ausarbeiten ist ein zeitaufwendiger Prozess. Stimmt das?

Diese Aussage höre ich nicht zum ersten Mal. Was man dabei häufig verkennt, ist, dass es dem Markt nicht um die Zeit, sondern um die Effektivität von Normen geht. Ein relevanter Zeittreiber für die Entwicklungszeit ist das Konsensprinzip. Es ist entscheidend, ob 2 oder 20 Parteien am Tisch sitzen, und wie kontrovers ein Thema diskutiert wird. Einzelne Normenprojekte bedingen aufwendige Tests oder einen Ringversuch von einem externen Prüflabor, um evidenzbasierte Aussagen zu machen, die in die Norm einfliessen. Das sind externe Faktoren, die zeitraubend erscheinen mögen, aber für ein glaubwürdiges Ergebnis unabdingbar sind.

Gibt es ein Beispiel von einer Norm, die in Rekordzeit erarbeitet wurde?

Da denke ich spontan an die Community-Masken. Beim Ausbruch von Covid sind Experten überall wie Pilze aus dem Boden geschossen. Ob in der Tagesschau, in der Arena oder im Kassensturz, nonstop wurde die Bevölkerung mit unterschiedlichen Meinungen bombardiert. Die SNV wurde zu Hilfe gerufen, um diesem Umstand Einhalt zu gebieten und einen Konsens unter all den Involvierten zu bewirken.

Wir haben damals die im Fernsehen und Radio auftretenden Fachpersonen angeschrieben und sie an einem Tisch versammelt. Alle sind gekommen und haben die unterschiedlichen Auffassungen ausdiskutiert und alles in eine einheitliche Form gegossen. Aufgrund des gesellschaftspolitischen Drucks haben wir ein verkürztes Verfahren eingeleitet, dass zu einem normativen Dokument, einer SNR (Schweizer Regel) und nicht zu einer klassischen Schweizer Norm (SN) geführt hat. Dadurch konnten wir auf die öffentliche Umfrage verzichten, die ausnahmslos drei Monate in Anspruch nimmt. SNRs haben deshalb eine beschränkte Lebensdauer. Die Idee ist, eine SNR innerhalb einer vorgeschriebenen Zeit in eine vollwertige SN umzuwandeln oder sie nach Ablauf dieser Zeit auslaufen zu lassen.

Haben Sie abschliessend einen Wunsch für die Normungsarbeit?

Unsere Kollegen in Asien sind sehr engagiert, wenn es um neue Vorstösse und um die physische Präsenz in den Arbeitsgruppen oder Meetings geht. Dieses Jahr durften wir eine internationale Sitzung in Winterthur organisieren. Die chinesische Delegation ist mit einem Stab von rund 20 Fachpersonen angereist. Europa war nur mit wenigen Personen aus Deutschland, England und Skandinavien vor Ort. Die meisten haben es vorgezogen, via Webcall anwesend zu sein. In der Normungsarbeit sind die Gespräche in den Pausen oder während des gemeinsamen Essens aber ebenso wichtig. Hier wünsche ich mir, dass Europa sich vom Engagement der asiatischen Mitgliedsländer vermehrt anstecken liesse.