Es ist dunkle Nacht. Kein Bus fährt, kein Passant auf den Beinen, kein Zug unterwegs und auch nirgends ein Personenwagen zu sehen. Es ist ruhig auf den Strassen des Industriequartiers. Einzig auf einer nahen Baustelle herrscht so etwas wie ein Treiben, das sich als unprätentiös geschäftig umschreiben lässt.
Die Roboter und die Maschinen ziehen ihre vorprogrammierten Kreise, schichten Module um Module, und ziehen so einen Industriekomplex in die Höhe, der bald rund 600 Mitarbeitenden als neue Werk- und Arbeitsstätte dient. Präzis arbeiten sie, ohne Pause, ohne Murren, einzig die Materialzufuhr lässt sie kurz innehalten.
Die Baustelle 2.0 ohne Personal ist zwar noch nicht Realität, sie wäre dennoch wohl nach dem Geschmack von Bauunternehmen, damit sie die Automatisierungsprozesse auf ein neues produktives Level hieven könnten. «Doch noch ist es nicht ganz so weit», sagt Professor Thomas Utz, Institutsleiter für Innovation, Design und Engineering (IDEE-FHS) an der Fachhochschule St. Gallen, der sich in seiner Lehrtätigkeit unter anderem mit Innovations- und Zukunftsmanagement und der digitalen Transformation beschäftigt.
Wie hat sich das Bauhandwerk in den letzten Jahren verändert?
Das Bauhandwerk habe eine lange Tradition. Und doch, räumt Utz ein, hat es sich in den letzten Jahren verändert. «Die Digitalisierung hat im Baubereich zum Teil stattgefunden, jedoch noch nicht so stark wie beispielsweise in der Industrie.» Obwohl 3D-Modellierung von Gebäuden oder die digitale Planung bereits virtuelle Bestandteile sind, werden die digitalen Modelle gemäss Utz hauptsächlich für die Vermarktung von Gebäuden genutzt. Warum die digitale Zukunft sich im Bauhandwerk nur zögernd oder teilweise umsetzen lässt, ist nicht nur auf die alte und traditionsbewusste Branche zurückzuführen.
Das greife zu kurz, sagt der Forscher. «Eine Transformation ist eine bewusste Änderung von dem, wie wir es schon immer gemacht haben.» Dies wecke Ängste, schüre Widerstand, und «diese gilt es ernst zu nehmen und darauf zu reagieren». Das IDEE-FHS unterstützt und begleitet Unternehmen oder Organisationen bei der Konzipierung unkonventioneller Lösungsansätze. «Gemeinsam erarbeiten wir Entscheidungsgrundlagen im Spannungsfeld zwischen Begehrlichkeiten, technischer Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit.»
Vorteile von BIM
An der Zukunft des Bauens wird trotz allem gearbeitet. Die Hauptmotivation, auf digitale Modelle zu setzen, ist in der Praxis oft die Kostenoptimierung. Ein zu einseitiger Ansatz für Thomas Utz. Optimierung von Ressourcen seien wichtig, und mit der BIM-Methode sicherlich über den kompletten Lebenszyklus eines Gebäudes möglich, «doch Innovation sollte mehr als reine Optimierung sein».
Bis Kosten eingespart werden, müsse zu Beginn einiges investiert werden. Neben der Kosteneinsparung sei ein Hauptvorteil von BIM, ein Bauwerk mit all seinen Anforderungen detailliert zu planen und virtuell zu testen. «Bauwerke werden daher noch mehr den Bedürfnissen der einzelnen Stakeholder entsprechen.»
Digitale Hilfsmittel auf der Baustelle
Die Baubranche nur auf BIM (Building Information Modeling) zu reduzieren, wäre falsch. Während der Ausschreibungs- und Realisierungsphase kommen zum Beispiel neben der BIM-Methode auch andere Aspekte der Digitalisierung zum Einsatz. So kann die Sicherheit der Baustelle per Videoüberwachung und mit Drohneneinsatz aus der Ferne überwacht werden. Lieferketten werden per RFID-Chips eingehalten und kontrolliert.
Vereinzelt kommen neue Baumethoden mit Robotern und per 3D-Druck zum Einsatz. Die Kommunikation mit digitalen Hilfsmitteln nimmt zu, so Thomas Utz. So werden Termine koordiniert, Sitzungen organisiert und wichtige Informationen weitergegeben.
«Der Lebenszyklus eines Bauwerks endet nicht bei Schlüsselübergabe», betont Utz. Umnutzungen, Sanierungen, Erweiterungen bis hin zum Rückbau gehören ebenfalls in den Zyklus. Gemäss dem Innovationsforscher liegt hier ein riesiges Potenzial brach, das noch zu wenig Beachtung finde. «Wenn wir dann noch etwas weiter in die Zukunft schauen, wird vielleicht irgendwann eine künstliche Intelligenz, gespiesen mit Wünschen und Anforderungen der Bauherrschaft, selbstständig Konzepte von Bauten entwickeln», meint Utz.
Studie zur Digitalisierung auf der Baustelle
Digitalisierung gewinnt auch in der Gebäudetechnik laufend an Bedeutung. Das ist der Kern der Aussage einer Studie, die EnergieSchweiz im Oktober 2019 in Auftrag gegeben hat. Die drei Autoren umfassen mit der Gebäudetechnik die Bereiche Heizungsbau, Klima- und Lüftungstechnik, Sanitär sowie elektrotechnische Anlagen zusammen, die ein Teil der Gebäude sind.
Die interdisziplinäre Betrachtung von Bauprojekten werde immer wichtiger, so die Autoren. Nur so können die Energieverbrauchsreduktion und der effiziente Einsatz von erneuerbaren Energien sichergestellt werden. Digitale Werkzeuge und Vorgehensweisen wie BIM seien entscheidende Hilfsgrundlagen, weil die digitalen Hilfsmittel die Möglichkeit bieten würden, Stromproduktion und -nachfrage sehr lokal aufeinander abzustimmen. Dies bedinge das flexible Zusammenspiel von elektrotechnischen Anlagen und der Gewerke der Heizung, Lüftung, Klima und Sanitär.
Wie häufig werden digitale Hilfsmittel in der Baubranche schon angewendet?
In der Studie wurden in Gesprächen mit Experten und in einer Umfrage bei Mitgliedern bei den Verbänden Suissetec (Schweizerisch-Liechtensteinischer Gebäudetechnik-Verband) und Swissolar (Schweizerischer Fachverband für Sonnenenergie) die Chancen, die Risiken und die Herausforderungen der Digitalisierung erörtert. Die Feststellung der Autoren: «Die Baubranche verwendet im Vergleich zu anderen Branchen (noch) wenig digitale Methoden und Geräte.»
Im Gebäudetechnikbereich böten sich viele Möglichkeiten der Digitalisierung. In der Bewirtschaftungsphase beispielsweise. «Hier spielen vernetzte Geräte (Internet of Things) eine immer wichtigere Rolle in der Gebäudetechnik», schreiben die Autoren der Studie.
Hindernisse bei der Anwendung vernetzter Geräte
Ein Hindernis bilde dabei das Abstimmen der Schnittstellen zwischen den einzelnen Geräten. Hier gilt es, über digitale, plattformbasierte Ansätze die Integration der Systeme voranzutreiben. Dies ermöglicht das optimale Zusammenspiel zwischen Stromproduktion und lokalem Verbrauch. Dies bedinge zudem eine interdisziplinäre Herangehensweise, von den Vorstudien bis hin zur Bewirtschaftung eines Gebäudes. So zum Beispiel in der strategischen Planung, wo grundlegende Weichen für ein Bauprojekt erstellt werden.
Digitalisierung spielt insbesondere dort eine Rolle, wo Daten zur Umgebung gesammelt und visualisiert werden. «BIM koordiniert und plant den ‹Digital Twin› eines Bauvorhabens», meint auch Thomas Utz.
Das bringe grosse Vorteile, da keine Redundanzen in Planunterlagen vorhanden sind, Probleme frühzeitig erkannt würden. «Dabei werden die Daten eines Bauprojekts zentral gelagert und dargestellt, sodass eine einfachere Koordination zwischen den einzelnen Planern, beispielsweise den Gebäudetechnik- oder Elektroplanern, möglich wird.»
Neue Studiengänge zur digitalen Transformation
Die digitale Transformation macht auch vor dem Bildungssektor nicht halt. «Die Arbeitsfelder von Ingenieurinnen und Architekten befinden sich mitten in einem rasanten Umbruch», schreibt die Hochschule Luzern Technik & Architektur in einer Pressemitteilung vom November 2019. Es brauche zusätzliche Qualifikationen, und so biete die Hochschule mit Digital Construction und Digital Engineering ab dem Herbst 2020 zwei neue Studiengänge an. Schweizweit die ersten ihrer Art.
«Die Studierenden werden darauf vorbereitet, die Schnittstellen zwischen den klassischen Gestaltungs- und Ingenieurberufen des Bauwesens interdisziplinär zu gestalten», sagt Prof. Dr. Stephen Wittkopf, Vizedirektor und Studiengangleiter ad interim Digital Construction. Es sind künftig Fähigkeiten gefragt, die das Fachwissen von bestehenden Berufen, von der Innenarchitektin bis zum Elektroingenieur, nicht ersetzen, sondern lernen, das Know-how neu zu verbinden.
Prof. Dr. Björn Jensen, Studiengangleiter Digital Engineering, ergänzt: «Die Digitalisierung ist ein anhaltender Prozess, der die künftigen Anforderungen auf eine Art und Weise verändert, die wir heute nur erahnen können. Für uns ist daher wichtig, dass die Studierenden selbstständiges Lernen lernen und sich auf den Grundlagen ihres Bachelor-Studiums auch nach dem Studium weiterhin gezielt Wissen in neuen Bereichen aneignen können.»
Wie könnte das Bauen in der Zukunft aussehen?
Ein mögliches Bild, wie Bauen in der Zukunft aussehen könnte, zeigt der Architekturstudent Haseef Rafiei mit seiner aufsehenerregenden Vision des «Pod Vending Machine»: ein Gebäude mit integriertem 3D-Drucker, der auf Wunsch, quasi «on demand», das Gebäude weiterbaut, sobald Raumbedarf besteht. Dort können sich künftige Bewohner ihre Wohnung ohne Unterstützung von Fachleuten entwerfen und ausdrucken lassen.
«Die Möglichkeit besteht sicher, dass Bauwerke zukünftig vollautomatisch und ohne menschliches Zutun erstellt werden», meint auch Thomas Utz. Spannend an einem solchen Zukunftsbild sei, was all die Bauarbeiter machen werden. Für Thomas Utz dient die Taxibranche als mahnendes Beispiel. «Uber wird als grosse Konkurrenz bekämpft», doch in naher Zukunft würden mit grosser Wahrscheinlichkeit selbstfahrende Autos durch die Gegend brummen.
Utz fragt sich, wen die Taxibranche denn eigentlich bekämpfe. «Man würde sich besser auf neue Möglichkeiten von Tätigkeiten konzentrieren als gegen eine App zu kämpfen.» Und genau das gelte auch für die Baubranche, denn Bauwerke komplett ohne menschliches Zutun zu erstellen, sei noch weit entfernt. «Nun hätte man Zeit, sich über neue Beschäftigungsmodelle und Tätigkeiten zu unterhalten.» Ansonsten drohen dunkle Wolken für eine ganze Branche aufzuziehen.