Führende Aerosolforscher aus Deutschland fordern von der Politik einen Kurswechsel bei den Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Seuche. «Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass DRINNEN die Gefahr lauert», heisst es in einem Brief an die Bundesregierung und an die Landesregierungen.
«Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt», kritisieren die Verfasser. In Wohnungen, Büros, Klassenräumen, Wohnanlagen und Betreuungseinrichtungen müssten Massnahmen ergriffen werden. In Innenräumen finde auch dann eine Ansteckung statt, wenn man sich nicht direkt mit jemandem trifft, sich aber ein Infektiöser vorher in einem schlecht belüfteten Raum aufgehalten hat, warnen sie.
Unnütze Debatten übers Flanieren
Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder Radfahren seien hingegen kontraproduktiv. Massnahmen wie die Maskenpflicht beim Joggen an Alster und Elbe in Hamburg etwa seien eher symbolischer Natur und liessen «keinen nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen erwarten», schreiben die Experten.
Sars-CoV-2-Erreger würden fast ausnahmslos in Innenräumen übertragen. Im Freien sei das äusserst selten, im Promille-Bereich. Hierauf sollten die begrenzten Ressourcen nicht verschwendet werden, heisst es in dem Brief. Auch würden im Freien nie grössere Gruppen - sogenannte Cluster - infiziert, wie das in Innenräumen etwa in Heimen, Schulen, Veranstaltungen, Chorproben oder Busfahrten zu beobachten sei.
Ausgangssperre kontraproduktiv
Auch die Ausgangssperren versprechen aus Sicht der Wissenschaftler mehr als sie halten können. «Die heimlichen Treffen in Innenräumen werden damit nicht verhindert, sondern lediglich die Motivation erhöht, sich den staatlichen Anordnungen noch mehr zu entziehen», schreiben sie.
Mit Ausgangsbeschränkungen will die Politik verhindern, dass sich Menschen zeitweise überhaupt treffen. Stattdessen empfehlen die Autoren mehrere Massnahmen wie Treffen in Innenräumen so kurz wie möglich zu gestalten, mit häufigem Stoss- oder Querlüften Bedingungen wie im Freien zu schaffen, effektive Masken in Innenräumen zu tragen sowie Raumluftreiniger und Filter überall dort zu installieren, wo Menschen sich länger in geschlossenen Räumen aufhalten müssen - etwa in Pflegeheimen, Büros und Schulen.
«Die Kombination dieser Massnahmen führt zum Erfolg», heisst es weiter. «Wird das entsprechend kommuniziert, gewinnen damit die Menschen in dieser schweren Zeit zugleich ein Stück ihrer Bewegungsfreiheit zurück.» Zu den Unterzeichnern zählen der Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, Christof Asbach, Generalsekretärin Birgit Wehner und der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch.
Kritik von links bis rechts gegenüber Merkel
Mehrere Fraktionen halten die Vorschläge des Bundes zum neuen Infektionsschutzgesetz, das eine Ausgangssperre von 21 Uhr abends bis 5 Uhr morgens vorsieht, für hochproblematisch. «Insbesondere die Frage der Ausgangssperren ist ein dermassen tiefer Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, der nicht einfach en passant beschlossen werden kann», warnte der erste parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, in einem Brief an das Gesundheits- und das Innenministerium.
Die FDP kritisierte die Ausgangsbeschränkung als unverhältnismässig. «Beispielsweise geht vom abendlichen Spaziergang eines geimpften Paares keinerlei Infektionsgefahr aus», gab Parteichef Christian Lindner zu bedenken.
Inzwischen hat die Bundesregierung die Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Die Gesetzesvorlage muss noch den Bundestag und den Bundesrat angenommen werden.
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