Herr Brunner. Sie waren 25 Jahre im Vorstand der schweizerischen Gesellschaft für Reinraumtechnik, arbeiten in ISO- und CEN-Normierungsgremien und führten ein Ingenieurbüro, das speziell auf die lüftungstechnischen Bedürfnisse von Spitälern und der Pharmaindustrie ausgerichtet war. Was ist die schwierigere Aufgabe: Einen Reinraum für die Pharmaindustrie zu gewährleisten oder Massnahmen festzulegen, welche die Verbreitung von SARS-Cov-2-Viren in Schulen verhindern sollen?
Arnold Brunner: Beim Planen und Bauen eines Pharma-Reinraums geht es darum, möglichst alle Kontaminationsquellen aus dem Raum zu verbannen. Personen, die einen sterilen Pharma-Reinraum betreten wollen, müssen sich maximal einkleiden. Es müssen ein Overall mit Kopfhaube, Mundschutz und auch eine Brille getragen werden, kein Quadratzentimeter Haut darf sichtbar sein. Alles Massnahmen, womit man vermeidet, irgendwelche Keime in den Reinraum einzutragen. In einem Klassenzimmer ist die Situation ganz anders. Hier haben wir es mit Jugendlichen zu tun, die möglicherweise Viren emittieren und gar nicht bemerken, dass sie dies tun. Deswegen ist die Herausforderung gross, mit klugen Lüftungskonzepten der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus entgegen zu wirken.
Dann ist die epidemiologische Ausgangslage bei Kindern, die sich in Schulklassen zusammenfinden nicht dieselbe wie bei Erwachsenen?
Es in der Tat unerfreulich: Wir wissen nicht, welche Kinder Viren emittieren und welche nicht. Aber weil die Kinder offensichtlich den Virus besser bekämpfen mit ihrem gesunden Immunsystem, werden vergleichsweise wenig Viren emittiert und dies vermutlich auch über eine kürzere Zeitdauer. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die SARS-CoV-2-Viren im Atemtrakt von Kindern stark vermehren, ist geringer als bei Erwachsenen, die bald einmal typische Symptome zeigen. Das heisst aber nicht, dass Kinder bei der Übertragung des Virus nur eine untergeordnete Rolle spielen. Durch die vielen Kontakte, die sie auch in der Freizeit haben, sind sie für die Viren ideale Boten.
Immer öfter werden Schulschliessungen diskutiert, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Was ist der Beitrag der Lüftungsexperten, die man ja selten in dieser Debatte hört?
Gebäudetechniker können aufzeigen, wie mit klugen Lüftungsstragien das Risiko einer Ansteckung wesentlich reduziert werden kann. Lüften hilft, sogar sehr viel. Doch wir können das Risiko mit einer noch so ausgefeilten Lüftungstechnik nicht auf Null reduzieren. Das zeigt ein einfaches Rechenbeispiel:
Stellen wir uns ein Schulzimmer mit 29 Schüler/innen und einer Lehrperson vor. Jemand aus der Klasse emittiert Viren. Und nehmen wir an, dass das virenbelastete Aerosol gleichmässig im Klassenzimmer verteilt worden ist.
Eine mechanische Lüftung mit getrennten Zu- und Abluftkanälen ist in der Lage, mindestens zwei Luftwechsel in der Stunde zu vollziehen. Nach einer halben Stunde hat die ideale Lüftung so viel Luft ausgetauscht, wie bereits in diesem Raum vorhanden war. Die Virenlast kann so jedoch – wegen dem Verdünnungsprinzip – nur auf die Hälfte reduziert werden. Nach einer Stunde – vorausgesetzt die Lüftung durchspült den ganzen Raum – wäre das noch ein Viertel und so weiter. Bleibt die Quelle im Raum, so ist es unvermeidlich, dass sich ein gewisser Virenpegel einstellt, eine weitere Zunahme der Konzentration kann jedoch vermieden werden. Ob das reicht, um eine Ansteckung zu verhindern ist ungewiss und ist auch noch von vielen anderen Faktoren abhängig. Sicher aber ist es richtig, die Emission durch Maskentragen (FFP2) zu reduzieren.
Wie muss man sich denn die ideale Luftführung, also die Strömungsmuster, in einem typischen Klassenzimmer vorstellen?
Die turbulenzarme Verdrängungslüftung ist hinsichtlich Lüftungseffizienz der Turbulenten Mischlüftung, also dem Verdünnungslüftungsprinzip vorzuziehen. Lüftungstechnisch-konstruktiv ideal wäre also eine Quelllüftung. Dabei wird unbelastete Zuluft (frische, filtrierte Aussenluft) durch bodennah angeordnete Quelldurchlässe in den Raum eingebracht. Es bildet sich im Bodenbereich quasi ein Frischluftsee, dessen Luft an warmen Flächen und an den Menschen im Raum nach oben strömt. Qualitativ einwandfreie Aussenluft gelangt genau an die Orte, wo sie benötigt wird. Die aufströmende Luft nimmt dann ausgeatmete Viren, Feinstaub, Gerüche und auch CO2 mit. Die so belastete Luft wird dann an der Decke als Abluft dem Raum entnommen und ins Freie ausgeblasen. Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten vor Abströmungen an kalten Aussenwänden oder Fensterfronten und Turbulenzen, die durch Bewegungen der Personen im Raum entstehen. Als Alternative und auch in vielen Fällen angewendet, kann eine richtig ausgelegte (Behaglichkeit, Lüftungseffizienz), turbulente Mischlüftung ebenfalls gute Resultate erzielen.
Pultauslässe sind in manchen Hörsälen von Hochschulen installiert worden. Doch in der Mehrzahl von Primar- und Sekundarschulen ist nicht einmal ein mechanisches Lüftungssystem eingebaut. Also müssen wir wieder über die Bedingungen sprechen, damit eine manuelle Lüftungsstrategie gut funktioniert.
Die Qualität der Innenraumluft in Schulzimmern ist abhängig von der Belegung. Man stelle sich ein Schulzimmer von ca. 64 m2 mit 30 Personen vor. Pro Sekunde und Schüler sollten ungefähr 7,5 Liter Aussenluft dem Raum zugeführt werden, also gut 800 m3/h, was in unserem Beispiel einem dreieinhalbfachen Luftwechsel entsprechen würde. Ist dies sichergestellt, so bleibt die CO2-Konzentration unter 1'000 ppm, was auf eine gute Innenraum-Luftqualität hinweist und auch über Stunden eine gute Lernatmosphäre ermöglicht. Die CO2-Konzentration stellt einen allgemein verlässlichen Indikator für die Belüftung von Innenräumen dar und kann auch einem Fensterlüftungskonzept zu Grunde gelegt werden.