Energiemanagement

Die neue Rolle der Wasserkraft

Der Ausbau von Wind- und Solarenergie liegt weltweit im Trend. Die Wasserkraft ist von dieser Entwicklung direkt betroffen, denn auf sie wartet eine neue Rolle: Die Funktion der Wasserkraft wird in Zukunft zusätzlich darin bestehen, die Umstellung der Energieversorgung auf grosse Mengen von Solar- und Windstrom zu ermöglichen.

In der öffentlichen Debatte nimmt die Erzeugung von «grünem» Strom aus ­Photovoltaik, Holz, Biogas und Wind breiten Raum ein, und gerade die Photovoltaik wartet mit beeindruckenden Wachstumsraten auf. Trotzdem bleibt in der Schweiz die Wasserkraft die mit Abstand wichtigste einheimische Energiequelle. Lauf- und Speicherkraftwerke deckten im Jahr 2020 gemäss Schweizerischer Elektrizitäts­statistik 58 Prozent des Strombedarfs (Grafik 1). Die Wasserkraft trägt rund 90 Prozent zur erneuerbaren Stromproduktion des Landes bei und bleibt damit ein zentraler Pfeiler der Energie­versorgung.

Doch der Blick in die Zukunft öffnet neue Perspektiven, auf nationaler wie internationaler Ebene: Die politische Unterstützung für den Ausbau von Wind- und Solarkraft ist gross, und sie zeigt Wirkung. Die Produktionskapazitäten im Bereich der Solar- und Windenergie wachsen im weltweiten Massstab deutlich schneller als bei der Wasserkraft (Grafik 2). Schon heute ist die installierte Leistung von Sonnen- und Windkraftwerken grösser als jene der Wasserkraftanlagen. Nach der kürzlich veröffentlichten Roadmap «Net Zero by 2050» der Internationalen Energieagentur wird die Energieproduktion aus Wind und Sonne jene aus Wasserkraft schon bald übersteigen (Grafik 3).

«Ermöglicher» der Energiewende

Vor dem Hintergrund des laufenden Umbaus der Energieversorgung vollzieht die Wasserkraft einen Rollenwechsel. Zwar bleibt sie ein wichtiger Pfeiler der Energieversorgung, sie übernimmt aber zusätzlich die Aufgabe, die Wende hin zu einer neuen, noch stärker auf erneuerbare Energieträger orientierten Energieversorgung zu ermöglichen. Sie ist also – um es auf Englisch zu sagen – der Enabler der Energiewende. Diese neue Rolle ergibt sich aus dem Umstand, dass die Stromproduktion aus Wind und Sonne weltweit massiv ausgebaut wird. Da diese beiden Energieformen aber wetterbedingt schwankende Erträge liefern, muss mit verschieden­artigen Massnahmen sichergestellt ­werden, dass Wind- und Solarstrom unter Wahrung der Netzstabilität ins System der eingebunden werden können.

Eine zentrale Rolle dürfte in diesem Zusammenhang der Wasserkraft zufallen, sagt Dr.-Ing. Klaus Jorde, der im Auftrag des BFE als externer Experte das Forschungsprogramm Wasserkraft leitet. «Für die Speicherung und Bereitstellung von Elektrizität in Form von (Regel-)Leistung und Energie ist die Wasserkraft eine sehr geeignete Option. Mit einem Gesamtwirkungsgrad von rund 80 % ist die Stromspeicherung in Stauseen den bekannten Power-­to-X-Technologien weit überlegen; sie ist langfristig auch günstiger und verfügt über eine längere Lebensdauer. Wasserkraft ist in vielen Weltregionen verbreitet und kann mit gewissen Anpassungen für Speicherzwecke genutzt werden.» Das Speicherpotenzial der Wasserkraft wird laut Jorde heute noch unterschätzt: Nach Unter­suchungen der Internationalen Energieagentur stellt sie aktuell eine Speicherkapazität bereit, die 2300-mal grösser ist als jene aller weltweit verfügbaren Batterien einschliesslich aller Elektrofahrzeuge.

Herausforderungen

Um die neue Rolle als Enabler der Energiewende übernehmen zu können, braucht die Wasserkrafttechnologie einen Modernisierungsschub. Denn die Kraftwerke müssen für einen flexiblen Betrieb flottgemacht werden, wie er in der herkömmli-chen Stromerzeugung nicht vorgesehen war. Neben den technischen Herausforderungen sind die wirtschaftlichen Aspekte zu bedenken, wie Klaus Jorde ausführt: «Kraftwerkbetreiber zögern mit den erforderlichen Investitionen heute noch, weil in vielen Märkten die wirtschaftliche Basis für diese Investitionen fehlt. Die Wasserkraft hat traditionell sehr lange Amortisationszeiträume. Es braucht langfristig gesicherte Vergütungen für diese neuen Leistungen, damit die Kraftwerkbetreiber die entsprechenden Investitionen tätigen.»

Vor diesem Hintergrund sind die Forschungsaktivitäten zu verstehen, die sich gegenwärtig mit der Flexibilisierung von Wasserkraftanlagen befassen. Die Schweiz hat in dem Bereich zusammen mit den USA und Norwegen eine führende Stellung. Das Projekt «SmallFLEX» unter der Leitung der Westschweizer Fachhochschule Valais-Wallis zum Beispiel untersuchte von 2017 bis 2021 am Laufwasserkraftwerk Gletsch-Oberwald (VS) die technische Machbarkeit und das ökonomische Potenzial eines flexiblen Betriebs sowie dessen Auswirkungen auf die Flussökologie. An dem Projekt war die École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) beteiligt, die über langjährige Erfahrung in der Wasserkraftforschung verfügt. Dort betreibt die von Prof. Mario Paolone geleitete «Plateforme technologique machines hydrauliques» (PTMH) Grundlagenforschung und unterstützt die Industrie in Entwicklungsprojekten. «Unsere Forschung fokussiert sich auf den flexiblen Betrieb von Wasserkraftwerken, denn damit kann die Wasserkraft künftig einen wichtigen Beitrag zur Transition des Energiesystems leisten», sagt Dr. Elena Vagnoni, Leiterin der PTMH-Forschungsgruppe.

Schädliche Wirbel in Francis-Turbinen

Ein 2021 abgeschlossenes Forschungsprojekt unter dem Akronym POST (für: Plant Operation Stability Modeling) hat das Verhalten von Francis-Turbinen untersucht, die bei Teil- oder Volllast ausserhalb des klassischen Drehzahlbereichs betrieben werden. In solchen Fällen können Instabilitäten auftreten, die sich in Vibrationen und Geräuschbildung manifestieren und zu Effizienzverlusten und Materialermüdung führen. Die Instabilitäten rühren von Wirbeln, die nach dem Durchströmen der Turbine entstehen und zu Blasenbildung (Kavitation) führen.

Das Forscherteam hat im POST-Projekt die physikalische Charakteristik dieser Wirbel für verschiedene Betriebsarten beschrieben. Zudem entwickelte das Team mithilfe der Simulationssoftware SIMSEN ein Modell, das vorhersagen kann, welche Wirbel bei welchen Betriebsbedingungen zu erwarten sind. Elena Vagnoni: «Unsere Erkenntnisse helfen den Turbinenherstellern, die Turbinengeometrie so zu optimieren, dass keine bzw. weniger Instabilitäten auftreten. Die Kraftwerkbetreiber lernen daraus, in welchem Mass sie die Betriebsbedingungen ohne nachteilige Instabilitäten verändern können.»

Hydraulischer Kurzschluss-Betrieb

Die Kompetenz des EPFL-Labors fliesst aktuell in ein auf vier Jahre angelegtes Demonstrationsprojekt ein, an dem fünf Elektrizitätswerke und weitere Forschungspartner wie die Westschweizer Fachhochschule und die ETH Zürich beteiligt sind. In dem Projekt mit dem Namen «HydroLEAP», das vom BFE im Rahmen seines Pilot- und Demonstrationsprogramms unterstützt wird, werden an drei Kraftwerkstandorten verschiedene Fragestellungen praxisnah untersucht. Ein Standort ist das Waadtländer Pumpspeicherkraftwerk FMHL in Veytaux. Pumpspeicherkraftwerke werden unter anderem zur Sicherung der Netzstabilität eingesetzt. Dank ihrer hohen Flexibilität können sie bei einem Stromüberangebot im nationalen Netz den «überflüssigen» Strom nutzen, Wasser zurück in den Stausee zu pumpen, oder aber Engpässe überbrücken, indem sie das Wasser turbinieren. Bei dieser sogenannten «sekundären Regelleistung» sind der Strombezug (Pumpen) oder die Stromproduktion (Turbinieren) oft auf wenige Minuten begrenzt. Weil mit Regelleistung unerwünschte Schwankungen im Stromnetz unterbunden werden, wird diese von der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid vergütet.

In der Kraftwerkszentrale von FMHL in Veytaux wird nun untersucht, wie sich die Menge der bereitgestellten Regelleistung besser als bisher steuern lässt. Das gelingt mit einer noch relativ jungen Betriebsweise von Pumpspeicherkraftwerken, die unter dem Namen «Hydraulischer Kurzschluss» bekannt ist: Dabei wird Wasser in den Stausee zurückgepumpt, gleichzeitig aber auch über die Turbine Strom erzeugt. In diesem Setting bezieht die Pumpe eine fixe Leistung, die produzierte Strommenge aber lässt sich über einen Teillastbetrieb der Turbine stufenlos regulieren. Unter dem Strich kann das Kraftwerk im hydraulischen Kurzschluss-Betrieb die bereit­gestellte Menge an negativer Regelleistung (Bezug von «überflüssigem» Strom aus dem Netz) fein regulieren und damit bedarfsgerecht abstimmen. «Für Kraftwerkbetreiber ist diese Betriebsweise attraktiv, da sie für die Stromproduktion und die negative Regelleistung entschädigt werden», betont Elena Vagnoni.

Laufwasserkraftwerk

Ein zweiter Forschungsstandort des HydroLEAP-Projektes ist das Hochdruck-Laufwasserkraftwerk Ernen im Oberwallis. Auch hier steht die flexible Nutzung der Wasserkraft im Vordergrund. Bei einem flexiblen Betrieb wird der Betriebspunkt der Turbine oft und schnell geändert. Dies aber führt zu einer erhöhten Beanspruchung der Turbine und kann deren Lebensdauer verkürzen. Um schnelle Drehzahl­veränderungen der Turbine zu vermeiden, setzen Kraftwerkbetreiber neuerdings Batterien ein: Diese liefern vorübergehend Strom ins Netz, bis die Turbine ihre Drehzahl erhöht hat, bzw. nehmen Strom auf, bis die Turbine ihre Drehzahl abgesenkt hat. Erste Hybridanlagen dieser Art sind an verschiedenen Kraftwerkstandorten weltweit in Betrieb. Mit dem Projekt im Oberwallis sollen auch in der Schweiz vertiefte Erfahrungen gewonnen werden.

Ein zweites Teilprojekt am Kraftwerk Ernen betrifft die Kraftwerkserneuerung. Die Schweizer Kraftwerkbetreiber stehen vor der Herkulesaufgabe, in den nächsten 30 Jahren die Konzessionen für eine Produktionsmenge von 23 TWh Strom zu erneuern. Das ist mehr als die Hälfte der aktuellen Wasserkraft-Jahresproduktion. Am Kraftwerk Ernen wird untersucht, ob bei einer Retrofit-Massnahme der Ersatz der Francis-Turbine durch eine Pelton-­Turbine mit mehr Flexibilität und besseren Wirkungsgraden im Teillastbetrieb sinnvoll wäre. Den gleichen Hintergrund hatten die zwei bereits abgeschlossenen BFE-­Forschungsprojekte, SHAMA und RENOVHydro: Die Westschweizer Beratungsfirma Power Vision Engineering (St-Sulpice/VD) hatte dabei Simulationsmodelle für Kraftwerkserneuerungen entwickelt. Die Modelle helfen den Betreibern bei der Auslegung der Systemkomponenten und bei der Definition der Betriebsbereiche von Turbinen. Sie vereinfachen auch die Vorbereitung von Retrofit-Massnahmen.

Verlässliche Geschäftsmodelle

Die erwähnten Forschungsprojekte zeigen nur einen Ausschnitt der Schweizer Forschungsaktivitäten, die die Zukunft der Schweizer Wasserkraft als Enabler der Energiewende sicherstellen sollen. «Die bisherigen Ergebnisse der laufenden Forschung lassen darauf schliessen, dass die Wasserkraft über ein grösseres Flexibilitätspotenzial verfügt als bisher angenommen», sagt BFE-Programmleiter Klaus Jorde. «Bei den technischen Fragen zur Flexibilisierung des Betriebs und der optimierten Nutzung des Speicherpotenzials sind wir gut unterwegs. Damit die Wasserkraft ihre neue Rolle wirklich antreten kann, müssen die Marktbedingungen angepasst werden: Die Kraftwerkbetreiber brauchen Investitionssicherheit, um verlässliche Geschäftsmodelle aufbauen zu können.»