Heute soll analysiert werden, wie viel oder wie wenig die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) mit der Energiewende zu tun hat bzw. dazu beitragen kann, denn vielfach liest man, zur Einsparung von Verlusten seien die für die Energiewende zusätzlich erforderlichen Stromtrassen als Gleichstromleitungen auszuführen. Eine Argumentation ist entweder nicht schlüssig oder fehlt ganz. Richtig ist:
Es entfallen die dielektrischen Verluste – doch diese sind bei 50 Hz vernachlässigbar gering. Die dielektrische Verlustrate wird z. B. für VPE mit 2,4 * 10-4 (bei 50 Hz) angegeben. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass ein Anteil von 0,24 ‰ an der kapazitiven Blindleistung als Wirkverlust auftritt – das ist alles.
Es entfällt auch der Wirbelstromverlust (Skin-Effekt) – doch auch dieser ist gering und liesse sich ausserdem durch eine geringfügig grössere Bemessung des Leiterquerschnitts ausgleichen.
Weiterhin entfällt die Notwendigkeit zur Kompensation von Blindleistung – doch wäre dies kein Kunststück. Auch kompensiert sich eine Freileitung sozusagen von selbst, wenn sie mit ihrer natürlichen Leistung Pnat betrieben wird (Bild 1, Tabelle 1), bei welcher die Einflüsse der Längsinduktivität und der Querkapazität gleich gross sind und sich gegenseitig aufheben wie in einer Blindstrom-Kompensationsanlage.
Eigenschaften der HGÜ
Der Einsatz von HGÜ wird dagegen unumgänglich, wenn ein Austausch zwischen Netzen verschiedener Bemessungsfrequenzen ermöglicht werden soll. Selbst wenn Netze gleicher Bemessungsfrequenz gekuppelt werden sollen, kann es sein, dass eine «HGÜ-Kurzkupplung» erforderlich wird, weil die Netze nicht synchron laufen. Oft trifft dies sogar mit dem zweiten Anwendungszweck der HGÜ zusammen (die Ostsee wimmelt von solchen Fällen [1]):
Der häufigste Grund für die Anwendung von HGÜ ist nämlich, dass die Überbrückung längerer Strecken als Erdkabel oder Seekabel mit Drehstrom oder Wechselstrom überhaupt nicht möglich ist. Die Kabelkapazität wird dann wegen des viel geringeren Abstands der Aussenleiter gegen Erde (den stets geerdeten Kabelschirm) so gross, dass bereits bei relativ begrenzten Längen der kapazitive Blindstrom der Leitung den Bemessungsstrom erreicht und für einen Laststrom keine «Luft» mehr bleibt (Bild 2). Mit «Verlustminderung» hat der Einsatz der HGÜ hier nur höchst indirekt zu tun: Die Errichtung eines Umrichters an jedem Ende ist nicht nur mit erheblichem Aufwand verbunden, sondern frisst jeweils etwa 0,5 % der Übertragungsleistung an Verlusten – ungefähr so viel wie 50 km Kabel. Sollte denn das HGÜ-Kabel tatsächlich 20 % weniger Verluste aufweisen als das Drehstromkabel, so müsste es schon 500 km lang sein, damit die gesamte Verlustleistung gerade mal mit der Drehstromleitung gleichauf liegt. Hier wäre zunächst zu berechnen, ob nicht der gleiche Effekt durch einen um 20 % grösseren Leiterquerschnitt wesentlich wirtschaftlicher zu erreichen ist.
Nein, die Entscheidung für HGÜ fällt immer aus den anderen genannten Gründen und nicht, weil diese Art der Übertragung weniger Verluste hätte. Ausserdem ist es stets eine Frage der Auslegung und Auswahl des Kabels, welche Höhe an Verlusten man denn zulässt. Da die Verluste fast ausschliesslich aus dem ohmschen Widerstand bestehen, kann man sie theoretisch immer halbieren, indem man den Leiterquerschnitt verdoppelt – ob nun für Drehstrom oder für Gleichstrom, für Kupfer oder für Aluminium. Der Eindruck, HGÜ spare Verluste, rührt vermutlich daher, dass (bislang) HGÜ fast ausschliesslich für Kabeltrassen eingesetzt wird (da dies mit Drehstrom über längere Strecken nun mal nicht geht) – und dann vergleicht man sie mit einer Drehstrom-Freileitung (Tabelle 1; Bild 5). Diese hat nur deswegen höhere Verluste, weil sie der Umgebungsluft als Kühlmittel ausgesetzt ist und daher höher belastet werden kann als das im Boden eingebettete Kabel. Die «besseren Kühlungsbedingungen» kann man immer auch als die «leistungsfähigere Energieverschwendung» bezeichnen. Ohne Weiteres liesse sich die Freileitung überdimensionieren bzw. nicht voll auslasten – und schon zöge sie mit einem voll belasteten Erdkabel gleich.
Die Praxis zeigt allerdings, dass Freileitungen über den grössten Teil ihrer Betriebszeit nur schwach belastet sind. «Grenzwertig» wird die Last in Deutschland gern im Winter bei Sturmtief, wenn die 64 GW installierte Windkraftleistung – davon das Meiste im norddeutschen Flachland und 11,5 GW auf See – zu 75 % ausgelastet sind und ihre Produktion in die Industriegebiete im Süden übertragen werden muss. Gern verkauft man auch noch die Überschüsse in die Schweiz, die ihre winterliche Wasserkraftlücke füllen muss. Der starke kalte Wind erlaubt dann eine deutlich höhere Belastung der Freileitungen über den Bemessungsstrom hinaus – und die dabei im Quadrat zum Strom steigenden Verluste stören in dieser Überfluss-Situation keinen grossen Geist (vgl. Bild 8 in Abschnitt 3). Unter durchschnittlichen Bedingungen liegen die Netzverluste sehr viel niedriger, da die Verlustleistung bei halber Last auf 1⁄4, bei 1⁄10 der Last bereits auf 1⁄100 der in Tabelle 1 genannten Werte fällt.
Dies gilt ebenso für ein Erdkabel. Dieses aber benötigt ohnehin schon einen deutlich grösseren Leiterquerschnitt für die Übertragung des gleichen Stroms, selbst wenn man ein Kupferkabel mit einer gewöhnlich aus Aluminium mit Stahlkern bestehenden Freileitung vergleicht. Die Belastbarkeit des Erdkabels ändert sich auch nicht mit der Wetterlage. Ein Betrieb mit der natürlichen Leistung Pnat schliesst sich jedoch leider aus, da Pnat deutlich höher liegt als die Bemessungsleistung SN (nur in der Mittelspannung haut dies gerade noch hin – siehe Tabelle 1). Der Kapazitätsbelag C' (die Kapazität pro Länge) ist jedoch, wie erwähnt, in der Hoch- und Höchstspannung sehr viel grösser als die einer Freileitung, und der Induktivitätsbelag L' (Tabelle 1) ist kleiner, weil die Abstände zwischen Hin- und Rückweg des Stroms in einem Drehstromkabel wesentlich geringer sind (Bild 3). Auch Einzeladern werden zumeist nicht so weit voneinander entfernt verlegt (Bild 4) wie Freileitungsseilbündel auseinander hängen (Bild 5).
Bedeutung für die Energiewende
Dies ändert allerdings nichts daran, dass die HGÜ einen wichtigen Baustein für die Energiewende bildet – schon deswegen, weil sie Verbundnetze untereinander verbinden kann, die nicht synchron laufen. Bislang gibt es zwar noch gar kein Gleichstromnetz, sondern nur Punkt-zu-Punkt-Verbindungen, denn die notwendigen Betriebsmittel (Leistungsschalter) befinden sich gerade eben erst in der Erprobung. Das macht aber auch nichts, wie die deutsche Bundesnetzagentur urteilt: «Die Notwendigkeit eines vermaschten HGÜ-Overlay-Netzes ist unter den aktuellen Randbedingungen weder mittel-, noch langfristig gegeben» [3]. Zudem stellt dies in der gegenwärtigen Situation insofern auch wieder eine gewisse Stärke dar, als man nicht an bestimmte Spannungsebenen und Standard-Komponenten gebunden ist. Vielmehr kann für jede einzelne Verbindung eine passende Spannung gewählt – und somit auch z. B. die Leistung einer 380-kV-Drehstromleitung überboten – werden. Also: Das eine tun und das andere nicht lassen. Je mehr Leitungen und Netze, desto mehr Energiewende.
So ging am 27. Mai 2021 das schon in Folge 9 dieser Serie [4] angekündigte NordLink HGÜ-Kabel in Betrieb (Bild 6, Bild 7) [5], das seither einen Leistungsaustausch von 1,4 GW zwischen Deutschland und Norwegen ermöglicht – und mithin zwischen zwei 50-Hz-Zonen, die aber nicht synchron zueinander laufen. Hierfür kommt, wie ausgeführt (Abschnitt 1), nur Gleichspannung in Frage – abgesehen von der erheblichen Länge des Seewegs, die allein schon dazu zwingt. Norwegen kann nunmehr von Deutschland aus wie ein riesiger Akkumulator betrachtet werden. Dabei wird dort noch nicht einmal – auch nicht indirekt – elektrische Energie zur Einlagerung eingespeist, sondern lediglich der lokale Verbrauch zeitlich umgeschichtet: Die enormen Reserven des Landes [4] können geschont werden, solange ersatzweise genügend Solar- oder Windenergie aus Deutschland importiert werden kann (Bild 8). Herrscht hier aber die «Dunkelflaute» (Bild 9), dann sind die bis dahin geschonten nordischen Reserven noch vorhanden und können aus der Ferne zur Füllung der Lücke beitragen. Über das 380-kV-Drehstromnetz kann auch die Schweiz davon profitieren. Eine HGÜ-Verbindung ist dafür nicht erforderlich; zwischen Deutschland und Norwegen hingegen sehr wohl – und zwar gleich aus zwei Gründen.
Nun kann man diese Rechnung nicht ohne die Norweger machen, als stünde der gesamte Inhalt all ihrer Speicher dem Export zur Verfügung. Norwegen hat jedoch hinsichtlich der Wasserkraft einen Stand erreicht, der selbst die Schweiz um eine Grössenordnung übersteigt – trotz geringerer Einwohnerzahl. Die ET will demnächst einmal einen Blick auf die führenden Wasserkraft-Nationen Europas werfen. Schon mal vorab: Deutschland findet sich natürlich nicht darunter.