Grosse Unternehmen haben gemeinhin die Mittel, um mit Forschung innovative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Das gilt für die Energiebranche, ebenso wie für andere Wirtschaftsbereiche. Nicht selten sind es aber gerade die kleineren Unternehmen, die mutig vorangehen und neuartige Lösungen vorantreiben. Ein Beispiel ist das Tessiner Stromunternehmen AEM: Die Azienda Elettrica di Massagno versorgt nördlich von Lugano 9000 Haushalte in den Gemeinden Massagno, Capriasca und Isone mit Strom. AEM hat ihre Infrastruktur so ausgebaut, dass sie innovative Lösungen erproben und anbieten kann. So ist das Versorgungsgebiet flächendeckend mit intelligenten Stromzählern (Smart Metern) ausgerüstet, die alle 15 Minuten die Verbrauchsdaten an einen zentralen Server übermitteln. Zudem wurde in die Digitalisierung des Unternehmens investiert.
Dazu erklärt Dr. Daniele Farrace, Chief Innovation Officer bei der AEM: «Wir wollen unsere schweizweit wohl einzigartige Netzinfrastruktur nutzen, um zukunftsweisende Dienstleistungen zu entwickeln.» Unterstützt vom Bundesamt für Energie, Innosuisse, dem Tessiner Energieforschungsfonds und der Regionalentwicklungsstelle ERSL realisierte das Unternehmen in den letzten Jahren eine Reihe von Forschungsprojekten. «Wir verkaufen weiterhin Strom, aber im heutigen, sich radikal verändernden Energiesektor ist dies kein ausreichendes Geschäftsmodell mehr», sagt Farrace zur Begründung. «Darüber hinaus brauchen wir Innovation, um zusätzliche Wertschöpfung für die Gesellschaft zu erzielen. Die AEM ist dazu prädestiniert, da wir klein, agil und stark digitalisiert sind.»
Stromversorger richtet ZEV ein
In einem aktuellen Projekt hat die AEM zu Forschungszwecken eine Eigenverbrauchs-Gemeinschaft eingerichtet, auch bekannt unter dem Kürzel ZEV (für: Zusammenschluss zum Eigenverbrauch). Ein ZEV ist ein Verbund aus benachbarten Haushalten, die durch ein separates Stromnetz verbunden sind. Die Gemeinschaft regelt ihre Stromversorgung weitgehend selbstständig und versucht, den lokal produzierten PV-Strom weitgehend vor Ort zu verbrauchen. Hauptziel ist eine günstige Versorgung mit erneuerbarem Strom. In der Schweiz gibt es bislang nur wenige ZEV, da diese erst mit dem Energiegesetz von 2018 klar geregelt wurden.
Dass ein Stromversorger wie die AEM einen ZEV selber initiiert, ist ungewöhnlich. Denn ein ZEV hat für den lokalen Versorger wirtschaftliche Nachteile. Er kann weniger Strom verkaufen, ihm entgehen somit Umsatz und Gewinn. Zudem beteiligt sich der ZEV weniger an den Kosten der Netzinfrastruktur, obwohl ihm diese genauso zur Verfügung steht, wenn die Sonne nicht scheint resp. die Batterie leer ist. Trotz dieser Umstände hat die AEM in ihrem Versorgungsgebiet einen ZEV ins Leben gerufen. Ziel ist, die Auswirkungen der Eigenverbrauchs-Gemeinschaften auf die Stromversorgung genauer zu untersuchen und dabei auch mögliche Vorteile für die Energieversorger zu beleuchten: Da ein ZEV den dezentral produzierten Strom lokal verbraucht, speist er weniger Strom ins Netz ein und entlastet so das Verteilnetz. Dies könnte Verteilnetzbetreibern wie der AEM mittelfristig helfen, hohe Investitionen in Netzverstärkungen einzusparen, wenn die dezentrale Stromproduktion mit Photovoltaik stark ausgebaut wird.
Der ZEV der AEM wurde 2019 in der Tessiner Ortschaft Lugaggia (Gemeinde Capriasca) eingerichtet. Zum Verbund mit dem Namen «Lugaggia Innovation Community» (LIC) gehören 18 Einfamilienhäuser, ein Kindergarten und sechs PV-Anlagen mit einer Gesamtleistung von 72 kWp, ergänzt um eine gemeinsam genutzte Batterie im Quartier (60 kWh). Als wissenschaftliche Partnerin zur Erforschung von technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragestellungen rund um den ZEV fungierte die Tessiner Fachhochschule SUPSI. In zwei Vorgängerprojekten hatte die Hochschule Marktdesigns für die lokale Integration der erneuerbaren Energien in einem Blockchain-basierten Markt und dezentrale Steuerungsstrategien entwickelt. Das LIC-Projekt wurde vom BFE im Rahmen seines Pilot- und Demonstrationsprogramms unterstützt und von weiteren Finanzierungs- und Technologiepartnern begleitet.
ZEV entlastet Verteilnetz
Für die technische Umsetzung des ZEV in Lugaggia ziehen die Projektverantwortlichen eine positive Bilanz. Der Eigenverbrauch konnte deutlich gesteigert werden. Das belegt ein Blick auf jenen Teil der ZEV-internen PV-Produktion (rund 70 bis 80 %), der nicht direkt von den einzelnen Haushalten und dem Kindergarten verbraucht wird. Dank Einsatz einer Batterie und dank dem zeitlich optimierten Betrieb von Wärmepumpen und Elektroboilern (Lastverschiebung) kann 94 % dieser überschüssigen (also nicht direkt genutzten) Energie nun ebenfalls innerhalb des ZEV genutzt werden. Ohne Batterie wären immerhin 70 % der überschüssigen Energie im ZEV verbraucht worden. Ohne ZEV wäre womöglich alle überschüssige Energie zu einem tiefen Rücknahmetarif ins Verteilnetz zurückgeflossen. Der ZEV verbessert somit die Eigennutzung des Solarstroms. «Dank ZEV und dem Einsatz von Batterie und Laststeuerung lässt sich der Eigenverbrauch erhöhen und so das lokale Verteilnetz entlasten», sagt Prof. Vasco Medici, der das Projekt vonseiten SUPSI verantwortlich betreut hat. Die PV-Produktion in dem ZEV könnte laut Medici noch merklich ausgebaut und so der Batteriespeicher noch besser ausgenützt werden.
Eine Besonderheit des LIC-Projektes:
Die Steuerung von Batterie und elektrischen Lasten (Wärmepumpen, Elektroboiler) erfolgte im Rahmen des Projektes alternativ mit einer zentralen oder einer dezentralen Steuerung (vgl. Kasten 1). Für die dezentrale Steuerung mussten die Smart-Meter allerdings um Minicomputer ergänzt werden. Die beiden Steuerungsarten wurden unter anderem mit Blick auf künftige neue Formen des Stromhandels untersucht. «Die dezentrale Steuerung eröffnet zwar die Möglichkeit eines anonymisierten Stromhandels, allerdings ist es fraglich, ob sich für einen ZEV der zusätzliche Aufwand an Hardware rechnet», gibt SUPSI-Institutsleiter Dr. Roman Rudel zu bedenken, der das LIC-Projekt mitinitiiert hat.
Teurer Batteriespeicher
Das Projekt ermöglichte auch interessante wirtschaftliche Erkenntnisse. Die Nutzung von eigenem Solarstrom ist für die ZEV-Teilnehmer grundsätzlich zwar lukrativ. Die ZEV-Haushalte bekommen den Strom für durchschnittlich 16 Rp./kWh (im Vergleich zu 21 Rp./kWh ausserhalb des ZEV) und sparen damit im Jahr ca. 50 bis 150 Franken. Die Betreiber von PV-Anlagen innerhalb des ZEV können ihren Strom zudem innerhalb des ZEV zu besseren Preisen verkaufen als gegenüber dem lokalen Elektrizitätswerk. Der ZEV in Lugaggia profitiert allerdings davon, dass AEM den Quartierspeicher im Rahmen des Pilotprojekts finanziert hat. Hätte der ZEV selber für diesen aufkommen müssen, sähe die Kalkulation ungünstiger aus: Bei Kosten von 45 000 Franken und einer angenommenen Nutzungsdauer von zehn Jahren belastet der Batteriespeicher jede daraus bezogene Kilowattstunde zusätzlich mit 30 bis 40 Rappen. Es wäre dann günstiger, den Strom aus dem Netz zu beziehen statt aus der Batterie.
Für den Stromversorger AEM rechnet sich ein ZEV wie in Lugaggia nicht, trotz Einsparungen beim Ausbau des Stromnetzes, die sich mittelfristig einstellen dürften. Kurzfristig nimmt AEM nämlich aus dem Stromverkauf im Jahr rund 2000 Franken weniger ein. Trotzdem plant die Tessiner Stromversorgerin, in Zukunft weitere ZEV in ihrem Versorgungsgebiet aufzubauen und – zum Beispiel über eine Tochtergesellschaft – auch selber zu betreiben. «Das wird uns helfen, dass unser Verteilnetz einem fortschreitenden Ausbau der dezentralen PV-Produktion standhält. Zudem ist es ein Weg, um mit innovativen Dienstleistungen neue Geschäftsfelder und damit Einnahmequellen zu erkunden», sagt Daniele Farrace. Ein solcher Ansatz besteht darin, in einem ZEV für die Zwischenspeicherung des Stroms Elektroauto-Batterien einzusetzen, die bidirektional ge- und entladen werden können. Wie das gelingt, untersucht die Mobility Genossenschaft gegenwärtig im sogenannten V2XSuisse-Projekt. AEM ist als Projektpartner verantwortlich für die Untersuchung des Potenzials von Elektroauto-Batterien innerhalb eines ZEV. ■
Bilder SUPSI, EnergieSchweiz, AEM, B. Vogel