Seit einigen Jahren erhalten begrünte Fassaden in der Immobilienbranche viel Aufmerksamkeit. Gebäude wie der «Bosco Verticale» von Stefano Boeri in Milano oder der Wohnturm «Aglaya» auf dem Suurstoffi-Areal in Risch-Rotkreuz integrieren gleichsam die Natur ins Gebäude. Der Werbeeffekt ist gross, verdeckt aber ein wesentlich grösseres Potenzial: Die meisten Schweizer Dachflächen sind heute noch ausgesprochen ungrün. Als «Schwarzdach» ausgeführt, tragen sie im Prinzip nur einige Dachaufbauten, allenfalls noch ein paar schüchterne Pflänzchen.
Wer aus seinem Dach mehr herausholen wollte, musste sich lange zwischen zwei Optionen entscheiden: Entweder kam eine PV-Anlage in Betracht oder eine Begrünung. Beides unter einen Hut zu bringen, erwies sich als schwierig: Bei unkluger Pflanzenwahl wucherte das Grün rasch in die Höhe und führte zu Verschattungen auf den Solarmodulen. So betrachten viele PV-Planer und Solarteure die Dachbegrünung bis heute mit Argwohn.
Das ist schade, weil begrünte Dächer für Mensch, Natur und sogar das Gebäude zahlreiche Vorteile bieten. Kein Entweder-Oder, sondern eine Kombination der zwei Varianten will deshalb das Energiegründach erreichen. Unter diesem Namen stellte die Schweizerische Fachvereinigung Gebäudebegrünung (SFG) 2012 ein neues Konzept vor. Durch eine geschickte Wahl der Vegetation wird der solare Ertrag nicht geschmälert, sondern idealerweise sogar leicht erhöht. «Auf bisher kaum genutzten Dachflächen entstehen neue Lebensräume für Pflanzen und Tiere. Durch professionelle und sorgfältige Planung, Ausführung und Pflege kann die Biodiversität massiv gesteigert werden», sagt Erich Steiner, Geschäftsführer der SFG. Das Energiegründach sei damit «die ideale Synthese zwischen Stromerzeugung mittels PV und Dachbegrünung.»
Undichtigkeiten vermeiden
Um diese Synthese zu erreichen, eignen sich herkömmliche Aufständerungssysteme nicht. Deshalb werden für Energiegründächer spezielle Montagesysteme verwendet. Deren Trägerkonstruktion wird durch das Gewicht von Substrat und Vegetation festgehalten. Ein Beispiel für ein solches Energiegründach-Montagesystem ist «Contec greenlight». Dieses Aufständerungssystem besteht aus einer Grundplatte aus rezykliertem Kunststoff sowie einer Metallkonstruktion. Urs Meinen, Verkaufsleiter bei der Contec AG, nennt verschiedene Vorteile des Produkts: «Die Modulkante liegt 30 Zentimeter über der Dachfläche, damit gibt es keinen Ertragsverlust durch Abschattung. In der Aufständerung ist zudem ein Wasserspeicher integriert, was zusammen mit dem Gründach die Wasserretention erhöht.»
Die Retention, also das Zurückhalten von Niederschlägen, ist für Planer und Bauherren interessant. Denn in den meisten Gemeinden darf unverschmutztes Meteorwasser nicht in die Kanalisation eingeleitet werden, sondern muss auf dem Grundstück versickern. Wenn dies nicht möglich ist, muss entweder für die Einleitung des Wassers in die Kanalisation bezahlt oder ein Speichertank angelegt werden. Die immer häufigeren Starkniederschläge verstärken den Handlungsdruck. Ein begrüntes Dach kann hier Abhilfe schaffen. Das grösste Potenzial für Energiegründächer ortet Urs Meinen im Neubau und bei Dachsanierungen: «Gerade Mehrfamilienhäuser und Gewerbebauten eignen sich, weil gleichzeitig der Boden verdichtet und viel Energie bezogen wird. Mit dem Energiegründach kann die Energie dort produziert werden, wo sie benötigt wird. Zudem können neue Habitate für die unter Druck geratene Natur geschaffen werden.»
Sorgfältige Planung
Bei der Umsetzung eines Energiegründachs begegnen sich Planer, Solarteur, Gärtner, Abdichter und Baumeister. Damit das Projekt gelingt, braucht es eine gute Kommunikation und Absprache unter den Beteiligten. So muss etwa die Schnittstelle zwischen Solarteur und Abdichter klar geregelt werden. Meinen führt dazu aus: «Die Unterkonstruktion soll vom Abdichter eingebaut werden, damit die Dachhaut geschützt wird. Die Module montiert der Solarteur, die Dachansaat muss hingegen unbedingt der Gärtner vornehmen. Das falsche Saatgut kann das ganze Konzept über den Haufen werfen. Am besten ist es, wenn die Ansaat und der spätere Unterhalt von derselben Firma ausgeführt werden.»
Mit derselben Sorgfalt, die man der Dimensionierung und Ausrichtung der PV-Anlage widmet, muss also die Begrünung angegangen werden. Ein Experte für diese Fragen ist Fritz Wassmann von der SFG. Er fasst die bisherige «Best practice» wie folgt zusammen: «Es braucht Pflanzen mit niedrigem Wuchs, die dichte, möglichst immergrüne Matten bilden. Starke Wucherer, die nach kurzer Zeit dominieren, müssen vermieden werden. Idealerweise soll die Bepflanzung über das ganze Jahr ansprechend aussehen. Erwünscht sind auch eine grosse Artenvielfalt und eine hohe Trockenheitstoleranz. Je nach Standort, also in der Sonne oder am Schatten, soll die Vegetation unterschiedlich sein.» Damit das Energiegründach ökologisch möglichst wertvoll ist, sollte zudem auf ein möglichst ganzjähriges Blütenangebot geachtet werden.
Unterhalt bringt Leistung
Damit die artenreiche Bepflanzung gedeiht, aber keine Probleme bereitet, muss sie bis zum Einwachsen gärtnerisch gut begleitet werden. Unter Umständen benötigt sie auch eine regelmässige und ausreichende Wasserversorgung. «Mit regelmässigen Kontrollen, mindestens zwei Mal pro Jahr, muss man zudem die unerwünschte Vegetation im Griff behalten», erläutert Fritz Wassmann. Besonders gefährlich seien Pioniergehölze wie Weiden, Birken oder Pappeln. Für Bauherrschaften und Planer heisst das: Die gärtnerischen Arbeiten auf dem Energiegründach müssen sorgfältig ausgeschrieben und vergeben werden. Wer den Zuschlag dem billigsten Offertsteller erteilt, kann sich grosse Probleme einhandeln. «Man kann nicht einfach irgendeinen Gärtner auf das Dach lassen. Es braucht Fachleute, die sich ihre Kompetenz durch Weiterbildung, Engagement und Erfahrung aufgebaut haben», meint Wassmann.
Diesen Initialaufwand bestätigt auch David Stickelberger, Geschäftsleiter des Branchenverbandes Swissolar: «Der Pflegeaufwand ist anfänglich grösser. Sobald sich die angestrebte Pflanzengemeinschaft etabliert hat, braucht es weniger Aufwand für den Schnitt und das Entfernen unerwünschter Pflanzen.» Wer diesen Unterhaltsaufwand scheue, lasse die Vegetation hingegen wuchern: «Das führt zu Beschattungen und damit zu Mindererträgen der Solaranlage.» Leider habe es in den letzten Jahren viele schlechte Beispiele gegeben, sagt Stickelberger: «Deshalb leidet das Energiegründach in der Solarbranche unter einem zweifelhaften Ruf. Bei einer korrekten Ausführung gibt es aber Vorteile für die Solaranlage.» So könne wegen des grösseren Abstandes zwischen der Dachhaut und der Unterkante der PV-Module der Schnee besser abrutschen. Zudem werden durch den grösseren Abstand die Modulunterkante weniger stark verschmutzt, und Module würden besser durchlüftet.
Mehr Ernst
Damit ein Energiegründach den avisierten energetischen und ökologischen Nutzen bringt, braucht es also eine sorgfältige Planung, Koordination und Umsetzung. Zudem muss das Konzept nach Meinung von Erich Steiner von der SFG bekannter werden: «Generell fehlt es an ganzheitlicher, sachkompetenter Beratung. Architekten, Baumeister wie auch Energiefachleute wissen über das Energiegründach noch zu wenig Bescheid, um ihren Kunden echte Entscheidungshilfen geben zu können.» Urs Meinen von Contec betont das Synergiepotenzial, weist aber auf eine Schwierigkeit hin: «Die Dachbegrünung ist in unseren Baureglementen vorgeschrieben und mit der SIA-Norm 312 (Begrünung von Dächern) geregelt. Leider wird sie viel zu stiefmütterlich umgesetzt und oft mit fadenscheinigen Argumenten umgangen.» Beim Vollzug dieser Vorgabe haben die Städte und Kantone sicherlich noch viel Luft nach oben. Denn ob ein Gebäude verträglich für die Umwelt ist, entscheidet sich nicht nur aufgrund seiner Heizwärme- oder Stromversorgung. Es geht auch um die Frage, ob es Nischen für die immer bedrängtere Flora und Fauna bieten kann.