Frische Luft könnte diesen Winter wichtiger werden als je zuvor. Denn Sars-CoV-2 ist nach aktuellem Wissensstand vor allem dann ansteckend, wenn es zu grösseren Menschenansammlungen in geschlossenen, schlecht belüfteten Räumen kommt. Im Rückblick auf die Frühzeit der Pandemie eint diese Charakteristik einige der grössten Ausbrüche mit zahlreichen Infizierten. Dazu gehören etwa die Après-Ski-Bars in Ischgl, das San-Siro-Fussballstadion in Mailand oder das Kreuzfahrtschiff «Diamond Princess». Im Lauf des Frühlings und Sommers erwiesen sich Sonnenlicht und frische Luft als einfache und relativ starke Gegenmittel. Doch das Verlegen von Sitzungen, Restaurantbesuchen oder Festen unter den freien Himmel dürfte spätestens im Winter nicht mehr möglich sein. Mit dem längeren Aufenthalt in Gebäuden steigt also das Ansteckungsrisiko. Damit stellt sich die Frage, welche Rolle die Lüftungstechnik im Kampf gegen das Virus übernehmen kann.
Langsames Eingeständnis
Der internationale Fachverband REHVA hat sich mit seiner «COVID-19 Guidance» dieser Frage angenommen (vgl. Box). Gemäss dem Dokument sind mechanische Lüftungen an sich keine besonderen Risikofaktoren für die Übertragung des Coronavirus. Die Luftkanäle bestehen in der Regel aus verzinktem Stahlblech, darauf dürfte das Virus nur kurze Zeit überleben. Eine Desinfektion der Kanäle mittels flüssigen Mitteln oder UV-Licht ist deshalb gemäss REHVA nicht notwendig.
Auch beim nationalen Branchenverband, dem Schweizerischen Verein Luft- und Wasserhygiene (SVLW), hat man sich Gedanken zur Corona-Frage gemacht. «Am Wichtigsten ist aus unserer Sicht, dass die Frischluftmenge erhöht wird. Je mehr frische Luft im System ist, desto stärker wird die Virenkonzentration verringert. Es geht gewissermassen um Verdünnung», sagt Alfred Freitag, Präsident des SVLW. Als betriebliche Anpassungen empfiehlt der SVLW die folgenden Massnahmen:
Umluftbetrieb vermeiden, damit mit Viren belastete Luft nicht weiter im Gebäude verteilt wird.
Wärmetauscher ohne Leckluftrate betreiben.
Den Aussenluftanteil notfalls erhöhen (so kann die allfällige Viruslast in der Luft «verdünnt» werden).
Filter der Klasse ePM1 50% (früher als «F7» bekannt) verwenden, wenn möglich Filter der Klasse ePM1 85% (früher «F9»)
Regelmässige, mindestens jährliche Anlagenkontrolle mit Filterwechsel.
Unabhängige Hygieneinspektion durchführen lassen (alle 2 Jahre bei Anlagen mit Befeuchtung, alle 3 Jahre ohne).
Kunden aktiv ansprechen
Gebäudetechniker sollten sich nicht scheuen, ihre Kunden aktiv auf mögliche Optimierungs- und Schutzmassnahmen anzusprechen. Denn gerade bei grösseren Firmen ist das Bedürfnis nach Beratung und Justierungen der Systeme vorhanden. Das sagt Turan Babuscu, Head of Product Line Comfort bei der Siemens Schweiz AG. «Eine schnelle Reaktionszeit ist bei HVAC-Systemen wichtig. Unsere Kunden schätzen insbesondere die Möglichkeit, Einstellungen und Parameter ihrer Anlagen schnell und sicher aus der Ferne zu ändern.» Dank gezielter Anpassungen habe man die Verbreitung des Virus bei der ersten Welle im Frühling minimieren können.
Zu diesen Anpassungen gehörten zum Beispiel eine Reduktion der Luftbewegung innerhalb des Gebäudes, ebenso die Reduktion der Luftmenge oder des Feuchtigkeitsgehalts. In einigen Fällen wurde zudem angestrebt, anstelle der seitlichen Luftströmung eine Strömung von oben nach unten zu erreichen. «So kann das Risiko einer grossflächigen Virenverbreitung reduziert werden», sagt Babuscu und merkt an: «Mit dezentralen und intelligenten Raumautomations-Peripherien wie VAV oder intelligenten Klappen wäre das natürlich einfacher und schneller möglich.» Für einige Facility Manager dürfte der Virus ein Weckruf gewesen sein, um ihre bestehenden HVAC-Gewerke mit einer neuen Steuerung zu ergänzen. «Der Aufwand für Anpassungen kann sehr unterschiedlich ausfallen. Nützlich sind Fernzugriff, die Möglichkeit zum Speichern von Parametern oder die klare Trennung verschiedener Zonen und Segmente», sagt Turan Babuscu.
Unklare Rolle der Aerosole
Die Lüftungstechnik an sich ist nach aktuellem Wissensstand also ein nützlicher Helfer im Kampf gegen das Coronavirus. Dies gilt übrigens auch für kontrollierte Lüftungen in Wohngebäuden, die Frischluft ansaugen und filtern. Heikler ist jedoch die Frage, wie Infektionen innerhalb von Gebäuden überhaupt zustande kommen. Im ersten Halbjahr der Pandemie standen vor allem zwei Übertragungswege für das Virus im Fokus. Der erste ist die Übertragung durch kontaminierte Oberflächen respektive Hände (Schmierinfektion). Als zweite Variante können sich Menschen gegenseitig durch Husten oder Niessen anstecken (Tröpfcheninfektion). Gegen Schmierinfektionen hilft eine konsequente Handhygiene, einen relativ guten Schutz gegen Tröpfcheninfektionen bieten Abstandhalten und Hygienemasken.
Erst im Juli 2020 räumte die Weltgesundheitsorganisation WHO auf Drängen zahlreicher Ärzte ein, dass ein dritter Weg in Frage kommt, nämlich die Übertragung des Virus durch kleinste Partikel, sogenannte Aerosole. Im ungünstigsten Fall schweben diese über Stunden oder gar Tage in der Luft – gewissermassen wie Feinstaub. Aerosole können auch Viren oder Teile davon umschliessen. Es besteht also durchaus ein Risiko, sich in geschlossenen Räumen anzustecken, auch wenn die infizierte Person diesen Raum schon lange verlassen hat. Eine Lösung «en miniature» hat diesen Sommer der Aufzugs- und Fahrtreppenhersteller Schindler präsentiert: Der «UV CleanAir» ist ein Luftreinigungssystem für Aufzugskabinen. Das Gerät lässt die Luft häufiger zirkulieren als üblich und desinfiziert sie mittels UV-Strahlung. Bekanntlich zerstört diese das Erbgut von Viren und macht somit auch das Coronavirus unschädlich. Der «UV CleanAir» kommt aus Sicherheitsgründen nur zum Einsatz, wenn die Kabine steht und sich keine Passagiere darin befinden.
Allgemeines Unwissen hält an
Eine Variante, die sich vermutlich auch gut für Büro- oder Besprechungsräume eignet, sind Lüftungsgeräte mit HEPA-Filtern. Normalerweise vermögen diese, Viren zurückzuhalten, und könnten damit auch helfen, die Corona-Virenlast zu senken. Regelmässiges Lüften und eine erhöhte Frischluftzufuhr könnten allerdings zur Last werden, wenn die Aussentemperaturen unter die Komfortgrenze sinken. Auch deshalb stellt sich die Frage, wie gross die Gefahr einer Ansteckung via Aerosole ist und welche Schutzmassnahmen dagegen notwendig wären. Die internationale Forschungsgemeinschaft arbeitet seit Monaten intensiv an dieser Frage. Zahlreiche Studien sind bereits erschienen oder in Arbeit, meistens werden sie vor dem «peer review», also der fachmännischen Begutachtung und notfalls Korrektur durch andere Wissenschaftler, publiziert. Die Belastbarkeit und Relevanz dieser Studienergebnisse ist deshalb nicht unmittelbar klar.
Interessant ist vor diesem Hintergrund des allgemeinen Unwissens das Verhalten zahlreicher grosser Firmen. Gerade bei Grossbanken, Krankenkassen und öffentliche Verwaltungen wird nach wie vor auf Home Office (Mitarbeiter arbeiten möglichst zu Hause) oder Split Office gesetzt (nur 30-40 Prozent der Mitarbeiter sind gleichzeitig im Büro, der Rest arbeitet zu Hause). Einzelne Firmen wie Novartis oder Google haben gar klargemacht, dass ihre Angestellten auf Wunsch «Home Office für immer» wählen können. Die Idee dahinter ist klar: Bis mehr Klarheit über das Virus vorhanden ist, sollte man den Ausfall von Mitarbeitern infolge Krankheit, Isolation oder Quarantäne und im schlimmsten Fall den Betriebsstillstand tunlichst vermeiden.
Auf Sicht fahren
Allerdings ist nach wie vor sehr wenig über das Sars-CoV2-Virus und die von ihm ausgelöste Krankheit COVID-19 bekannt. Trotz intensiver weltweiter Anstrengungen bezüglich Virusforschung, Medikamenten- und Impfstoffentwicklung bleibt das Bild bruchstückhaft. Die ganze Welt fährt sozusagen auf Sicht, eine langfristige Planung ist derzeit nicht möglich. Bis zur Einführung wirksamer Medikamente gegen COVID-19 oder einer verlässlichen Impfung wird das Coronavirus also weiterhin grossen Einfluss auf den Alltag haben. Und die regelmässige Frischluftzufuhr, sei es via mechanische Lüftung oder Fensterlüftung, dürfte in diesem Winterhalbjahr noch viel wichtiger werden. «Lüftiger» sind gut beraten, sich auf diese Situation einzustellen. Sie können ihren Kunden gewisse Ängste nehmen und mit kompetenter Beratung zu den richtigen Einstellungen Vertrauen schaffen.