Schon der römische Dichter Vergil wusste: «Tempus fugit» – die Zeit flieht. Deshalb haben wir damit begonnen, Prozesse zu automatisieren. Automatische Antwort-E-Mails auf eine Anfrage, automatische Erinnerungen an künftige Termine oder die automatische Sendungsverfolgung eines Pakets begleiten uns schon längst im Alltag. Die Automation solch schlichter Aufgaben ist verhältnismässig einfach. Schwieriger wird es bei komplizierteren Prozessen. Hier setzt der Nationale Forschungsschwerpunkt «Zuverlässige, allgegenwärtige Automatisierung» (NFS Automation) an. In ihm werden neue Steuerungsansätze für komplexe automatisierte Systeme erforscht. ETH-Professorin Gabriela Hug ist Co-Direktorin des NFS Automation. Sie sagt: «Mehr als 30 Professorinnen und Professoren sowie fast 100 Forschende, Doktorierende und Post-Docs arbeiten seit 2020 an diesem Thema, sowohl auf der theoretischen Seite als auch im Anwendungsbereich. Ziel ist es, beides zusammenzubringen, um die Automation in verschiedensten Gebieten zu nutzen.»
Budget 27,5 Millionen Franken
Der NFS Automation ist interdisziplinär aufgebaut und verbindet in mehreren Modulen die Grundlagenforschung mit der angewandten Forschung. Die Leitung obliegt der ETH Zürich. Seit Beginn beteiligt sind aber auch Institute der EPFL, der Empa und der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seit 2022 sind ebenso Institute der Universität Zürich, der Universität Basel und der Fachhochschule der italienischen Schweiz (SUPSI) dabei. Lanciert wurde der NFS 2020 mit einem maximalen Zeithorizont von zwölf Jahren. Er wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt, der Stiftung zur Forschungsförderung im Auftrag des Bunds. Der Nationalfonds verfügt über ein Jahresbudget von rund 1,1 Milliarden Franken und fördert damit die Forschung in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Finanzierung des NFS Automation für die Jahre 2020 bis 2024 setzt sich so zusammen: Vom SNF stammen 15,6 Millionen Franken, die ETH Zürich steuert Eigenmittel von 11 Millionen Franken bei, hinzu kommen Gruppengelder der Projektbeteiligten von etwas weniger als einer Million.
Herausforderung für das Stromnetz
Ein Gebiet, mit dem sich der NFS Automation beschäftigt, ist die Energieversorgung. Gabriela Hug: «Wir entwickeln zwar keine neuen Windturbinen oder Solarzellen, forschen aber an der Integration der verschiedenen Energiequellen und wollen herausfinden, wie sich eine nachhaltige Energieversorgung sicherstellen lässt. Denn die Erzeugung von Energie wird mehr und mehr dezentralisiert, die Einspeisung ins Netz wird variabler.» In der Tat: Verhältnismässig wenige grosse Kraftwerke erzeugen heute Energie und speisen sie ins Stromnetz ein, doch in Zukunft wird es Millionen von kleinen Kraftwerken in Form von Photovoltaikanlagen auf Dächern geben. Das bedingt einen Umbau des gesamten Netzes. Benjamin Sawicki, Koordinator für Wissens- und Technologietransfer beim NFS Automation: «Während heute im Prinzip ein Mensch in einem grossen Kraftwerk in der Lage ist, Produktion und Verbrauch in Balance zu halten, bräuchte es bei Millionen kleinen Kraftwerken Millionen Menschen, die diese Steuerung übernehmen. Weil das unmöglich ist, brauchen wir Algorithmen und neue Regelungstechnik, um diese Aufgaben zu übernehmen.»
Inselnetz in Walenstadt
Im Demonstrationsprojekt «Moon Shot» in Walenstadt arbeitet der Elektroingenieur mit rund 20 weiteren Forschenden an möglichen Lösungen. Die Gemeinde am oberen Ende des Walensees im Kanton St. Gallen eignet sich hervorragend dafür, denn sie verfügt über reichlich erneuerbare Energie aus drei Wasserkraftwerken sowie Photovoltaikanlagen. Der zuständige Verteilnetzbetreiber, das Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt (WEW), hat ausser-dem im November drei Batteriesysteme mit je vier MW von der Firma 49Komma8 aus Buchs SG installiert, die schwarzstartfähig sind. Benjamin Sawicki erklärt: «Das heisst, sie benötigen kein Stromnetz, um hochzufahren. Sie sind also so etwas wie Notstromgeneratoren, die das Stromnetz neu aufstarten können, wenn es ausgefallen ist.» Für das «Moon-Shot»-Projekt ist aber nicht in erster Linie diese Eigenschaft wichtig, sondern die Tatsache, dass solche Batteriesysteme einen Inselbetrieb ermöglichen. «Dadurch können wir im Kleinen herausfinden, wie ein Stromnetz stabil gehalten werden kann. Wir erforschen, wie von uns entwickelte Algorithmen und Regeltechnik zusammenspielen müssen, um das Netz trotz vieler kleiner Nutzer in Balance zu halten, und welche Bedingungen Systeme erfüllen müssen, damit dieses Zusammenspiel auch funktioniert. Wenn wir das im Kleinen schaffen, dann müsste es auch im Grossen funktionieren.» Denn es ist sehr viel schwieriger, ein kleines Netz stabil zu halten als ein grosses. «Wenn zum Beispiel viele Elektrofahrzeuge gleichzeitig geladen werden oder viele Wärmepumpen nachts beim Niedertarif laufen, sind die Sprünge im Netz viel grösser», so der Elektroingenieur. «Nutzen viele kleine Produzenten und Konsumenten das Stromnetz, ist der Lastenausgleich viel schwieriger zu bewerkstelligen, als wenn das wenige grosse Anlagen tun.»
Stabilität
Ein wichtiger Bestandteil für die Stabilität eines Stromnetzes ist die Frequenz der Wechselstromversorgung. Der Sollwert liegt bei 50 Hz. Fällt ein Kraftwerk unerwartet aus, sinkt sie so lang, bis die Balance wieder hergestellt ist. Wird ein grosser Strombezüger vom Netz abgeschnitten, steigt die Frequenz. Die Folge ist ein instabiles Netz. Ausgleich schaffen Kraftwerke, die zur Stromerzeugung grosse Generatoren nutzen. Die Trägheit der Schwungmasse solch rotierender Metallelemente beziehungsweise rotierender Massen stabilisiert das Stromnetz, indem sie schnellen Frequenzänderungen entgegenwirkt. Ausserdem dämpfen die Generatoren die Frequenzschwingungen. Photovoltaikanlagen benötigen keine rotierenden Massen, denn die Energie kommt quasi direkt von der Quelle. Wechselrichter wandeln den gewonnenen Gleichstrom zur Einspeisung ins Versorgungsnetz in Wechselstrom um. Benjamin Sawicki: «Simulationen zeigen, dass sich die Systemdynamik aufgrund der fehlenden Trägheit der rotierenden Massen stark verändern wird. Aber wir arbeiten an Lösungen, um die Netzstabilität auch mit Wechselrichtern zu garantieren.» In der Schweiz machen Synchronmaschinen immer noch den allergrössten Teil der Erzeugung aus – zumindest so lang, bis der Ausbau der Solarenergie im Zug der Energiestrategie 2050 des Bunds abgeschlossen ist. «Weil es in Walenstadt bereits jetzt einen hohen Anteil an Wechselrichtern gibt, können wir hier einen Blick in die mögliche Zukunft werfen», sagt Benjamin Sawicki.
Neue Regelungsparameter
Nebst dem Erforschen automatisierter Energiesysteme ist auch die Automation in der Industrie ein Schwerpunkt des NFS Automation. Schon heute platzieren Roboter und Maschinen Werkstücke präzise für den nächsten Bearbeitungsschritt und fügen Bauteile selbstständig zusammen. Im NFS geht man aber noch einen Schritt weiter. Alisa Rupenyan ist die leitende Forscherin des Bereichs Industrie 4.0. Sie beschäftigt sich mit additiver Fertigung sowie der Regelung von Produktionsprozessen. «Im Moment können Regelungsparameter in den meisten Fällen nur vor Beginn eines Produktionsprozesses adaptiert werden», sagt sie. «Nehmen wir zum Beispiel die Beschaffenheit der Oberfläche eines Bauteils. Ist die Qualität zu niedrig, bleibt sie auf diesem Niveau, bis der Fertigungsprozess abgeschlossen ist.» Die Folge ist, dass allenfalls eine ganze Charge weggeworfen werden muss, weil sie den Anforderungen nicht genügt. Um das zu verhindern, entwickeln die Forscherinnen und Forscher Algorithmen für Steuerungsmechanismen, welche die Regelungsparameter auch während des bereits laufenden Produktionsprozesses anpassen können. Alisa Rupenyan: «Sie sind so aufgebaut: Im Fall einer mangelnden Qualität können sie zum Beispiel vorhersehen, welche Anpassungen im weiteren Verlauf des Fertigungsprozesses nötig sind, um die Qualität zu verbessern. Ausserdem sind sie in der Lage, diese Anpassungen auch in Echtzeit vorzunehmen.»
Von der Theorie zur Praxis
Die Algorithmen werden zunächst in der Theorie entworfen und in Form von digitalen Modellen in Steuermechanismen inte-griert. Sie werden aber auch in Laboranlagen und in Zusammenarbeit mit Industriepartnern in der Praxis erprobt – mit dem Ziel, dass sie letztlich in Produktionswerkstätten eingesetzt werden können. Alisa Rupenyan: «Mit solch fortgeschrittenen Steuerungsmechanismen wird einerseits die Produktivität gesteigert und andererseits werden nachhaltigere Fertigungsprozesse ermöglicht. Denn wenn die Qualität der meisten Werkstücke stimmt, wird weniger Ausschuss produziert und während des Prozesses auch weniger Energie verbraucht.»