Elektrotechnik

Das «GridLab» an der Walliser Fachhochschule (HES-SO Valais-Wallis) in Sion, geleitet von Prof. Davide Pavanell. Adaptive Schutzsysteme sind ein innovatives, bisher noch wenig bearbeitetes Forschungsthema. (Bild: HES-SO Valais-Wallis))

Eine Sicherung für alle Fälle

Jede Wohnung verfügt über einen Sicherungskasten. Dort gibt es für jeden Stromkreis einen Schutzschalter, der gefährlich grosse Stromflüsse unterbindet und so die Elektroinstallation vor Zerstörung schützt. Ganz ähnlich verhält es sich in den Stromnetzen: Auch hier unterbrechen Schutzsysteme gefährliche Stromflüsse etwa im Fall eines Kurzschlusses.

Strom hat neben allem Nutzen auch eine gefährliche Seite. Das weiss jeder, der schon einmal einen Stromschlag erlitten hat. Glücklicherweise kommt es nur selten zu ernsthaften Unfällen mit Strom. Dafür sorgen die über 600 Schweizer Verteilnetzbetreiber mit umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen. Sicherheit bedeutet: Wenn irgendwo ein gefährlich starker Strom fliesst, wird die Leitung sofort unterbrochen. Schutzschalter gibt es in jedem Haushalt, aber auch an verschiedenen Stellen des Stromnetzes, beispielsweise in jedem Unterwerk, wo der Strom von Hoch- auf Mittelspannung transformiert wird. So auch im Unterwerk Hugschwendi ganz hinten im Melchtal im Kanton Obwalden. Eine 16 Kilovolt-Mittelspannungsleitung des Elektrizitätswerks Obwalden (EWO) versorgt von hier aus 420 Kunden im Wander- und Skigebiet Melchsee-Frutt mit Elektrizität.

Hier garantieren intelligente Relais auf der Grundlage der UMZ-Strategie (kurz für: «unabhängiger Maximalstrom-Zeitschutz») den Schutz der Leitungen. Der Maximalstrom ist in diesem konkreten Fall auf 480 Ampère (ca. 2,5-facher Nennstrom der Leitung) festgelegt, die Zeit auf 0,8 Sekunden. Das heisst: Fliesst durch die Mittelspannungsleitung z. B. als Folge eines Kurzschlusses ein Strom von mehr als 480 Ampère, wird die Leitung nach 0,8 Sekunden über einen Leistungsschalter automatisch unterbrochen. «Mit dieser traditionellen Schutzfunktion, die manchmal noch von zusätzlichen Sicherheitselementen unterstützt wird, erreichen wir einen sicheren Betrieb unseres Stromnetzes», sagt der EWO-Netzschutzverantwortliche Markus Ettlin. Zu einer Unterbrechung des Stroms im Unterwerk kommt es selten. In den Verästelungen jedes Mittelspannnungsnetzes sind nämlich weitere Schutzrelais mit noch kürzerer Unterbrechungszeit eingebaut. Die zeitliche Staffelung sorgt dafür, dass im Fall einer sicherheitsbedingten Unterbrechung der Stromversorgung immer möglichst wenig Stromkunden betroffen sind («Selektivität»).

Schutzsysteme neu denken

Schutzsysteme dieser Art sind nicht nur im Melchtal, sondern in der ganzen Schweiz und natürlich auch im Ausland im Einsatz. Sie gewährleisten bis anhin eine sichere Stromversorgung. Doch in Zukunft könnte eine Anpassung der Schutzsysteme erforderlich werden, sagt Prof. Davide Pavanello, Stromnetz-Experte an der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO Valais-Wallis) in Sitten: «Die herkömmlichen Schutzsysteme basieren auf fixen Schwellenwerten für Stromflüsse, und sie werden nicht mehr zuverlässig funktionieren, wenn die Ströme in den Verteilnetzen durch viel dezentrale Einspeisung beispielsweise aus Photovoltaikanlagen stark schwanken.» Davide Pavanello war Leiter eines vom BFE unterstützten Forschungsprojekts mit dem Namen SynchroFAP (Synchrophasors for adaptive protection), das während der letzten zwei Jahre mit akademischen und industriellen Partnern ein Konzept für adaptive Schutzsysteme untersucht hat.

Einer der Projektpartner war der Genfer Verteilnetzbetreiber Services Industriels de Genève (SIG). Um die Problemlage aufzuzeigen, hat das Projektteam um Pavanello einen kleinen Teil des SIG-Mittelspannungsnetzes im Gebiet von Troinex-Carouge-Saconnex d'Arve und Veyrier im Computer nachgebildet. Mit dieser Modellierung untersuchten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen das Verhalten des Netzes bei einem Defekt, während dezentrale Kraftwerke viel Strom einspeisen. Für Schutzsysteme ergibt sich dadurch nämlich eine neue Situation, waren diese in der Vergangenheit doch für Stromnetze konzipiert, die aus grossen Kraftwerken gespeist werden und nicht aus zahlreichen kleinen, dezentralen Kraftwerken.

«Blind» für die tatsächlichen Stromflüsse

Bei einem hohen Anteil an dezentraler Erzeugung können theoretisch zwei Fehlfunktionen die Schutzsysteme beeinträchtigen (Grafik unten). Die eine wird als «blinding» bezeichnet: In diesem Fall erkennt das Schutzrelais am Anfang der Leitung in der Trafostation nicht mehr den gesamten Kurzschlussstrom, der weiter unten in der Leitung auftritt. Das Schutzsystem ist also «blind» für den Fehler. Bei der zweiten Störung ist die Situation umgekehrt: Das Schutzrelais einer Leitung reagiert auf einen Fehler in einer anderen Leitung, was zu einer unerwünschten Abschaltung der gesunden Leitung führt («sympathetic tripping», auf Deutsch ungefähr «beiläufiges Auslösen»).

Das Projektteam von SynchroFAP untersuchte mit seinem Modell, ob und wie oft diese beiden Fehlfunktionen in der Zukunft eintreten werden, wenn das Netz so viel dezentrale Erzeugung enthält, wie der Kanton Genf bis 2030 vorsieht (Versiebenfachung der PV-Leistung gegenüber 2018 auf 350 MWp). Die Forscher gingen davon aus, dass eine Photovoltaik-Produktion mit einer kumulierten Leistung von 12 MW in das modellierte Teilnetz eingespeist wird, was etwa 2000 Photovoltaikanlagen auf einzelnen Häusern oder drei Anlagen wie der von Palexpo in Genf entspricht. In den Versuchsreihen wurden zwar keine Fälle von Fehlfunktionen des Typs «sympathetic tripping» beobachtet, jedoch trat mehrfach das Phänomen des «blinding» auf: Das Schutzrelais löste kein Signal zur Unterbrechung des Stromflusses aus, auch wenn die betreffende Versorgungsleitung überlastet war. Die genannten Störungen betrafen dabei nur schwere Fehler, bei denen sich mehrere Phasen berühren (zweiphasig oder dreiphasig), nicht aber Fehler, die durch den Kontakt einer einzelnen Phase mit Erde entstehen (einphasig).

Schutzeinstellungen laufend angepasst

Um das Phänomen des «blinding» in Mittelspannungsnetzen zu vermeiden, schlagen die Westschweizer Wissenschaftler ein adaptives Schutzkonzept vor. In diesem Fall reagiert das Schutzsystem nicht auf die Überschreitung fester, sondern variabler Schwellenwerte, die kontinuierlich an die aktuelle Netzsituation, insbesondere die Einspeisung von Photovoltaikanlagen, angepasst werden. Das bedeutet dann zum Beispiel: Wird gerade viel PV-Strom ins Netz eingespeist, wird der Schwellenwert des Schutzrelais abgesenkt, damit dieses im Fall eines Kurzschlusses den Fehlerstrom erkennt und den Stromkreis unterbricht.

Das Lausanner Start-up Zaphiro Technologies war an allen Phasen des Projekts beteiligt und hat das adaptive Schutzkonzept schliesslich technisch umgesetzt. Damit der SynchroFAP-Algorithmus funktioniert, muss das betreffende Mittelspannungsnetz an ausgewählten Netzknoten mit speziellen Messgeräten (Phasor Measurement Units/PMU) ausgestattet sein (was heute in der Regel nicht der Fall ist). Die PMUs messen in der Regel 50-mal pro Sekunde die Kennwerte (Amplitude, Frequenz, Phasenwinkel) von Spannung und Strom. Um aus diesen Daten den aktuellen Netzzustand ableiten zu können, werden die PMUs über ein GPS-Signal sehr genau synchronisiert. «Wir nutzen die PMU-Spannungsmessungen, um das Schutzsystem jederzeit optimal anzupassen», erklärt Zaphiro-Co-Gründer Dr. Lorenzo Zanni. Die Funktionsfähigkeit von SynchroFAP wurde in einer Simulation des SIG-Netzes von Veyrier (siehe oben) nachgewiesen. Die Simulationsumgebung stammt aus dem Labor von Prof. Mario Paolone an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL), von dessen Kompetenz das Projekt durchgehend profitiert hat.

Installation eines Pilotprojekts

«Mit unserem adaptiven Schutzsystem können wir mehrstündige Black-outs und grosse Schäden am Netz vermeiden», ist Zaphiro-Mitgründer Dr. Marco Pignati überzeugt. Die SIG zeigen denn auch Interesse an dem neuen Schutzsystem, wie Michael Baranyai, bei SIG für die Unternehmenseinheit «Betrieb Stromnetz» verantwortlich, sagt: «Wir möchten die Machbarkeit dieser Technik mit einer Pilotinstal-lation auf einem begrenzten Teil unseres Mittelspannungsnetzes validieren, dies parallel zum konventionellen Schutzsystem.» Das Pilotnetz muss dafür mit PMU ausgerüstet werden. «PMU dienen in erster Linie dazu, Verteilnetze mit einem Echtzeit-Monitoring auszustatten mit dem Ziel, den Betrieb zu optimieren und dadurch – unter anderem – Leitungsverstärkungen zu vermeiden. Ist die Investition in PMU einmal getätigt, kann man die PMU-Daten dann auch für ein flexibles und robustes Schutzkonzept wie SynchroFAP nutzen.»