Die Sanierung von älteren Siedlungen ist für viele Bauträger eine ungeliebte Strafaufgabe. Bei einem Ersatzneubau hingegen scheinen alle Nachteile wegzufallen: Die Wohnungen können grosszügiger gestaltet und die aktuellen Komfortstandards erfüllt werden. Doch den Preis für die umfangreiche Aufwertung bezahlt meistens die vorherige Mieterschaft: Sie kann sich die schicken neuen Wohnungen nicht mehr leisten und wird günstigere Lagen, aufs Land oder gar ins Altersheim gezwungen.
Einen anderen Weg geht die Bau- und Wohngenossenschaft Nünenen in Thun (BWG Nünenen). Man achte bewusst darauf, dass die Mieten bezahlbar blieben und niemand aus seiner Wohnung «heraussaniert» werde, sagt Ruth Guldimann, Präsidentin der BWG Nünenen. So etwa bei der Siedlung Pestalozzistrasse aus den 1970er Jahren. Mit einem aufwendigen Sanierungsprojekt wurden fünf Bestandsbauten in die energetische Gegenwart geholt. «Wir heizen mit Grundwasser-Wärmepumpen anstelle der alten Gas-/Ölheizung, haben auf allen Dachflächen Photovoltaikmodule installiert und zudem 50 Garagenplätze für Elektrofahrzeug-Ladestationen vorbereitet», sagt Ruth Guldimann.
Aufwendige Vorbereitungen
Am Anfang des Projekts stand die Suche nach einer neuen Heizungslösung. Gleichzeitig mit der Siedlung der BWG Nünenen baute die Wohnbaugenossenschaft Schönau Ende der 1960er Jahre ihre Siedlung auf der anderen Strassenseite. Dort befand sich auch eine grosse Zweistoffanlage (Öl/Gas), welche die Siedlung der BWG Nünenen über Fernleitungen mit Wärme versorgte. «Die WBG Schönau entschied sich, die gemeinsame Heizung rückzubauen und auf die KVA-Fernwärme von Energie Thun umzusteigen. Deshalb brauchten auch wir eine neue Lösung», berichtet Ruth Guldimann. Die Vorteile und Kosten verschiedener Varianten wurden detailliert untersucht.
Dabei zeigte sich, dass eine eigene Heizung mit Holzschnitzeln oder Pellets mangels Kaminanlage und Platz für das Brennstofflager nicht realistisch war. Doch auch die KVA-Fernwärmelösung schnitt schlechter ab als zunächst gedacht: «Die Siedlung ist relativ gut gedämmt. Trotzdem hätte man unter dem Strich fast gleichviel Wärmeenergie benötigt wie bisher. Denn beim Transport über Fernleitungen entstehen hohe Verluste. Wegen dieser hohen Leitungsverluste suchten wir eine dezentrale Heizungslösung», sagt Energieingenieur Peter Hanimann. Er erstellte für die BWG Nünenen eine Vorstudie, erarbeitete das Sanierungsprojekt und begleitete dessen Umsetzung von A bis Z.
Grundwasser marsch
Die Lösung lag schliesslich im Boden: Aufgrund der günstigen geologischen Situation kann an der Pestalozzistrasse das Grundwasser als Energieträger genutzt werden. Bei der detaillierten Variantenstudie zeichnete sich zudem ab, dass diese Lösung auch finanziell überzeugte. An der Genossenschafterversammlung 2019 wurde ein Baukredit von 3 Mio. Franken bewilligt, und das Projekt konnte angepackt werden. Zuerst wurde je ein Brunnen für die Entnahme und Rückgabe des Grundwassers erstellt. Eine einzige Versorgungsleitung führt das gefasste Grundwasser durch das Areal zu den Heizungsräumen der einzelnen Gebäude und anschliessend zum Rückgabebrunnen. Dank eines innovativen Konzepts mit zwei Wärmepumpen pro Gebäude ist die Heizungslösung sehr effizient. Der Jahresarbeitszahl der Wärmepumpen beträgt nahezu 5. Das heisst, pro Kilowatt eingesetzten Strom werden knapp fünf Kilowatt Wärme erzeugt.
Mit der Nutzung des Grundwassers und grossflächigen PV-Anlagen auf allen Dachflächen schien das Konzept zunächst fertig. Im Prinzip hätte nun jedes Gebäude einzeln als Zusammenschluss zum Eigenverbrauch (ZEV) angemeldet werden können. Die Zuleitungen für die Ladestationen von den Gebäuden zur Einstellhalle waren vorsorglich bereits verlegt worden. «Dann entstand im Vorstand der BWG Nünenen jedoch die Idee eines Areal-ZEV. Der Vorteil war klar: Bei einem solchen grossflächigen Zusammenschluss kann der PV-Strom aller PV-Anlagen für den Haushaltsstromverbrauch und die Ladestationen genutzt werden, ohne ihn via EW-Netz wieder beziehen zu müssen», berichtet Peter Hanimann.
Vorteilhafter Areal-ZEV
Mitten in der Bauphase verfügte die BWG Nünenen einen Marschhalt und liess diese Situation abklären. Eine neue Elektroversorgung wurde berechnet. «Neu gibt es nur noch eine einzige öffentliche Stromzuleitung auf das Siedlungsareal», erläutert Hanimann. Andererseits mussten die Gebäude untereinander auf Kosten der Bauherrschaft vernetzt werden. Die Arbeiten waren aufwendig, doch laut Ruth Guldimann hat sich der Aufwand gelohnt: «Nun können wir unseren eigenen PV-Strom in der Genossenschaft bestmöglich selber verwenden und haben so einen grossen wirtschaftlichen Nutzen. Der Mieter profitiert vom eigenen Strom durch einen günstigeren Strompreis gegenüber dem EW-Bezug. zudem sind wir auch ökologisch bestens aufgestellt.»
Ein erster Mieter hat bereits die Ladestation für sein Elektrofahrzeug montieren lassen. Bei 49 weiteren Garagenplätzen sind die Grundplatten für die Stationen montiert. Innert Tagen können dort weitere Stationen in Betrieb genommen werden. Weitere 104 Garagenplätze verfügen bereits über die Stromzuleitung und können bei Bedarf rasch nachgerüstet werden.
Ein Energiemanagement steuert in den Gebäuden die grossen Verbraucher wie etwa Waschmaschinen, Wäschetrockner oder Schmutzwasserpumpen, damit die Lastspitzen und der Eigenverbrauch optimiert werden. Zwischen diesem Areal-Energiemanagement und den Ladestationen wurde ein dynamisches Lastmanagement eingebaut. Derzeit sammelt man Daten und Erfahrungen, auf der Areal-Hauptverteilung ist für alle Fälle bereits der Anschluss für einen Batteriespeicher vorbereitet.
Für die Mieterschaft werden die wichtigsten Daten (aktuelle PV-Produktion, aktueller Stromverbrauch) mit einem Monitor visualisiert, der jeweils im Hauseingang montiert ist. Mit einem Energiemonitoring für Wärme, Strom und Wasserverbrauch kann zudem das Hauswart-Team den Betrieb der Gebäudetechnik kontrollieren und optimieren. Ein arealinternes Netzwerk bietet den Hauswarten und Anlagelieferanten einen komfortablen Fernzugriff. Ebenso werden alle Störungsmeldungen automatisch an die Hauswarte übermittelt.
Ökologisch und fair
Wie das Beispiel der Siedlung Pestalozzistrasse zeigt, steckt im Bestand ein grosses energetisches Potential. Trotz der anspruchsvollen Lösung für Stromproduktion, Wärmeversorgung und E-Mobilität müssen die Mietparteien nicht die Zeche bezahlen.
«Wir konnten das gesamte Projekt mit einem Kredit von 3 Mio. Franken realisieren. Für unsere Bewohner ergab sich daraus kein Nachteil, denn die Mietzinse mussten nicht erhöht werden», sagt Ruth Guldimann. Das Projekt Pestalozzistrasse ist also nicht nur ein mustergültiges Beispiel für die Sektorkopplung sondern zeigt auch, wie die Energiewende sozial verträglich gestaltet werden kann.
Der vollständige Beitrag ist in p+i 05/23 erschienen